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Tyskland - fra Rødhætte til Rammstein

Tekst 14: Friedrich Christian Delius: Cavello bianco. (West)


Sollte ich eines Morgens anfangen, über die Nacht zu schreiben, in der die Berliner Mauer fiel, wie man gern sagt, obwohl sie keineswegs fiel, sondern, von einem Wimpernschlag auf den andern, durchlässig wurde und, wie jeder weiß, innerhalb weniger Stunden immer mehr ihre Eigenschaft und ihren zweideutigen Ruhm als unüberwindliche Grenze verlor, dann müßte ich, wenn ich wirklich so töricht sein sollte zu versuchen, das Unerhörte dieses sogenannten historischen Ereignisses aus meiner Sicht anhand einiger Einzelheiten darzustellen, auch ein weißes Pferd erwähnen, das kein Schimmel war, sondern ein cavallo bianco, das ich in den Wochen zuvor erfunden hatte und über das ich zur Auflockerung der italienischen Unterrichtsstunden mit Frau Rosetta F. kurze Episoden mit frisch gelernten grammatikalischen Formen und neuen oder aus dem Wörterbuch gefischten Vokabeln verfaßt hatte. Während wir an jenem Abend des 9. November in kleiner Gruppe beieinander saßen, müßte ich erzählen, und ich wieder einmal das cavallo bianco, ein sprechendes und für größten Unsinn begabtes Pferd, in einer neuen Episode durch das Wohnzimmer traben ließ und für die vielen groben Grammatikfehler mehr Vorwürfe von mir selbst als von Frau F. einsteckte, klingelte das Telefon. Hier müßte ich, wenn ich das einmal aufschreiben sollte, für eine kleine dramaturgische Spannungspause sorgen. Nach mitteleuropäischer Zeit, vermute ich heute, wird es zwischen 21 und 21.30 Uhr gewesen sein. Mein Freund P. rief aus den Vereinigten Staaten an, wo er sich seit einigen Wochen an einer Universität lehrend aufhielt. Er pflegte mich sonst nie aus den USA anzurufen, er war aufgeregt und sagte schon im ersten Satz, es gingen unter seinen Freunden Gerüchte um, die DDR hätte die Mauer geöffnet oder ein wenig geöffnet, ob das stimme. Ich lachte, und ich müßte, falls ich das einmal aufschriebe, sehr viel Mühe aufwenden, dieses Lachen zutreffend zu beschreiben, denn ich befand mich in Gedanken immer noch auf dem cavallo bianco, 


mit dem ich etliche kleinere Hindernisse überspringen konnte, nicht aber eine Hürde so hoch wie die Berliner Mauer. Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, daß er gesagt hat: Sie haben es eben im Fernsehen gemeldet. Es dürfte also noch nicht der Moment der Breaking News gewesen sein, denn dann hätte P. weniger fragend und vorsichtig gesprochen, und ich hätte aller Voraussicht nach nicht gelacht, sondern das Radio eingeschaltet. Obwohl ich nur vage rekonstruieren kann, was ich antwortete, diktiert mir die schöne Lügnerin Erinnerung, ich hätte dem Inhalt nach folgendes gesagt: Das halte ich für Quatsch, wahrscheinlich haben die Journalisten oder deine Freunde übertrieben und die (phantastisch kritische, fröhlich umstürzlerische) Demonstration (der Bürger des damals noch Hauptstadt der DDR genannten Ostberlin) vom 4. November falsch verstanden oder ein wenig überinterpretiert. Da ist viel in Bewegung, endlich, könnte ich gesagt haben, alles sehr aufregend, aber so schwach ist die Regierung nicht (oder noch nicht), daß sie die Mauer aufmacht. Mein Freund, müßte ich erklären, war durch sein Buch Der Mauerspringer zum Fachmann in Fragen der Berliner Mauer aufgestiegen, und er schien ziemlich enttäuscht von meiner Antwort, er hätte gern aufregendere Neuigkeiten erfahren. Ich sah keinen Grund, länger über Gerüchte schlecht informierter Amerika-ner zu reden, P. ebenfalls, er war nicht zufrieden mit unserm Gespräch, mein cavallo bianco scharrte mit den Hufen. Auch nachdem ich aufgelegt hatte, und das wäre nun mit besonderer Sorgfalt zu beschreiben, spürte ich kein Verlangen, mir nähere Informationen einzuholen vom lokalen Sender, und es war nicht die Stunde der Nachrichten. Ich ging in das Wohnzimmer zurück, sagte, P. hätte angerufen wegen der Demonstration vom 4. November, und wir setzten die italienische Konversation fort. Gut eine Stunde später, und das wäre nun erst der Anfang der Geschichte, schalteten wir die Tagesthemen ein und vergaßen das cavallo bianco für viele, viele Jahre.

Die Nacht, in der die Mauer fiel, Renatus Deckert, 2009

 

 

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