Tekst 10: Graf, Kriegstaumel August 1914
Jung half mir überall, wenngleich wir uns nie recht verstanden. Kamen wir ins Diskutieren, so glotzte ich ihn meistens dumm an, weil ich nichts verstand. Dann wurde er wütend und hieß mich Trottel und Idiot. Er spekulierte auf der Börse, leitete Korrespondenzbüros und war Redakteur einer Handelszeitung. Wenn ich mit seiner Frau daheim war, mußte ich ihr bayrische Lieder vorsingen, oder wir gingen ins Café und lauerten auf Leute, die Geld hatten. Es gab oft wüste Auftritte bei Jung. Die beiden schlugen sich. Ich wurde beschimpft als der Schuldige. Meistens nach so einem Krach, gingen Jung und ich weg und tranken oft zwei bis drei Tage. Alle Verbindungen mit zu Hause waren zerrissen. Ich hängte mich an Jung. Schließlich gab es Streit zwischen ihm und mir. Ich schlief eine Zeitlang heimlich bei Richard Oehring und ging mit den zwei Brüdern. Nichtsnützig verfloß die Zeit. Es wurde mir ekelhaft. Ich war unzufrieden. Des öfteren besuchten wir Versammlungen der Anarchisten oder verbrachten die Tage auf Rummelplätzen. Nichts geschah. Ich borgte mir von Richard Geld und ging auf die Zimmersuche. Ich wollte allein sein und mein eigener Herr, irgend etwas anfangen.
Die Nachricht von der Sarajewoer Mordaffäre durchschütterte die Welt. Telegramme kündigten die Mobilmachung Rußlands an. Dann die deutsche. Ein ungeheurer Ausbruch von Jubel fieberte über die Straßen. Alles hetzte Zusammenrottungen entstanden, die Kasernen standen voll von Freiwilligen. Durch die Straßen sausten Autos mit Offizieren, die mit Hochrufen begrüßt wurden. Schwerbepackte Lastautos mit Militärkleidern, Stiefeln und Helmen ratterte: daher. Dort mengten sich Menschen zusammen, stürmten gegen ein Café das einen fremdsprachigen Namen hatte und schlugen alles kurz und klein. Auf einem Platz jagte einen Rotte einem Menschen brüllend nach, schlug ihn tot, sang Deutschland, Deutschland über alles! Durch lange Straßen wälzten sich graue Regimenter, umjubelt vom Volk, von Bürgern, feinen Herren und Damen. Es war ein furchtbares Treiben und Hasten. Tag und Nacht durchdröhnte die Musik patriotischer Lieder und schaudervollster Geschichten vor Spionen, von ersten Zusammenstößen mit dem Feinde, die Luft.
»Jetzt geht's los!« sagte ich.
»Alles wird wegrasiert«, sagte Jung.
Die Intellektuellen des Cafe des Westens machten ratlose Gesichter. Auf einmal hatte alles aufgehört, was gestern noch so wichtig gewesen war. Alles hing in der Luft. Unzählige meldeten sich freiwillig. Warum wußte keiner recht.
»Wird eine feine Sache. Man muß mit den Betoneuren gehen«, sagte Jung. Er war ein Verzweifelter. Ich verstand das Wort nicht, verstand ihn nicht und schaute ihn dumm an. Ich ging zu Oehring. Der Herr Telegraphendirektor empfing mich förmlich mit offenen Armen: »Kommen Sie herein! Jetzt, in dieser Stunde, schweige jeder persönliche Zwist. Wir sind Deutsche! Deutsche! Kommen Sie!« Und er führte mich diesmal ins Wohnzimmer, wo Richard und Fritz bei ihrer Mutter saßen. Das war die ganze Zeit noch nie vorgekommen. Der Tisch war zum Biegen gedeckt mit Speisen, dicken Zigarrenschachteln und Zigaretten. Die beiden Brüder sahen mich verdutzt an.
»Ich stehe mit dem letzten Blutstropfen hinter euch, meine Söhne, mein Alles!« rief der Telegraphendirektor und deutete auf mich: »Hier, auch Herr Graf meldet sich in dieser ernsten Stunde freiwillig. Das Vaterland ruht tief in unserem Busen.« Er erhob das Weinglas und rief fast singend: »Mit Gott für euch und unseren Kaiser, für das Vaterland und unsere Ehre! Wohlan!«
Ich glotzte zuerst, dann konnte ich das Lachen kaum noch halten. Dennoch brachte ich im Innern ein dumpfes Mißbehagen nicht los. Ich wußte nicht, was es war. Es drückte nur auf jeden Entschluß, den man fassen wollte.
Der Telegraphendirektor gab den beiden Söhnen Geld, und wir entfernten uns. Ich war vollkommen verblödet jetzt. Die beiden gingen in die Wrangelkaserne und wollten sich freiwillig melden. Mir wurde die Sache unbehaglich. Was wollte ich da? Ich sah zahllose Freiwillige im Kasernenhof stehen. Jedes einzelne Gesicht strahlte. Ich sagte zu Richard: »Weißt du was, das ist mir zu langweilig! Wenn sie mich wollen, werden sie mich schon holen! Nachlaufen tu ich ihnen nicht!«
Wir hatten Fritz im Gedränge verloren. Eine Zeitlang pfiffen wir vergebens, entfernten uns und suchten Jung.
»Was geht mich der ganze Dreck an! Ich werde jetzt wieder Bäcker machen«, sagte ich so im Dahingehen. Richard wußte nicht, was er sagen sollte.
»Und überhaupt! ... Wenn ich schon zum Militär muß, so möchte ich zu den Bayern«, sagte ich wieder.
»Das geht kaum mehr«, sagte Richard.
»Warum nicht?« fragte ich verdutzt.
»Alle Züge sind für Truppentransporte verwendet worden. Du kommst nicht mehr nach München«, antwortete er. Ich ging zu Jung und fragte ihn, was ich tun sollte.
»Freiwillig ... Die Sache wird fein! Lüttich ist schon genommen. Es geht wie mit einer Maschine«, war dessen Antwort.
Und wieder sagte er: »Im Nu ist Paris genommen.« Ich kannte ihn nicht mehr. Der war doch durchaus nicht anders wie alle die, die jetzt in einem fort in dichten Massen in der Stadt herumzogen und in wilder Kriegsbegeisterung: patriotische Lieder brüllten! Sonderbar, wo war denn sein ganzer Anarchismus hin?
Das Cafe des Westens war leer. In allen Kneipen, wo wir gezecht hatten, tauchte Jung nicht mehr auf. Er und seinesgleichen waren total verschwunden. Ich stand allein auf weiter Flur, allein und mir selbst überlassen. Wo waren sie alle hin, die mich gelehrt hatten, daß ein Anarchist dem Staat auf keinem Fall dienen darf, daß er vor allem jeden Militär- und Kriegsdienst unbedingt verweigern muß? Als Kriegsfreiwillige waren sie in Scharen in die Kasernen gelaufen!
Eine ungeheure Enttäuschung, Wut, Haß und Ekel vor diesen Schwätzern erfaßte mich. ()
In Marggrabowa erkrankte ich an Ruhr, wurde zur Krankensammelstelle geschaft und von da aus ins Reservelazarett Goldap. Da ich jede Medizin verweigerte, drohte der Arzt mit einem Wieder-an-die-Front-Stecken, was mir sehr erwünscht gewesen wäre. Halb gesundet, mußte ich mich bei der Etappn-Kommandantur melden.
Wo gehören Sie hin? fragte der diensttuende Leutnant dort. Ich nannte meine Formation. Der mann hielt sich die Ohren zu: Ihre Truppe ist längst in den Karpathen. Wo liegt Ihr Ersatztruppenteil?
In München!
Ich bekam einen Schein und fuhr mit dem nächsten Zug der Heimat zu. Die Reise ging durch Berlin. Ich stieg aus und wollte meine Freunde besuchen. Jung war an der Front, die beiden Oehrings ebenfalls. Nur Cläre, die Freundin Richards, traf ich. Sie war hocherfreut und besorgte mir eine Unterkunft. Ich blieb drei Tage. In dieser Zeit suchte ich einmal Oehrings Vater auf. Alt war er geworden, sehr alt. Er öffnete die Tür weit und empfing mich mit einem warmen Händedruck, führte mich ins Wohnzimmer und brachte Essen und Zigarren. Allerhand Neues über meine Freunde erfuhr ich von ihm. Alfred Lichtenstein war gefallen. Fritz Oehring gefangen. Trübselig ließ der Alte den Kopf hängen. Seine lahme Frau hockte im Lehnstuhl am Fenster. Sie sagte gar nichts und schaute nur immerzu teilnahmslos ins Leere.
»Ja, dieser Krieg«, sagte ich.
»Dieser Krieg«, fiel mir der Alte wiederbelebt ins Wort, »er hat das Wesenhafte hervorgeholt. Er wird die deutsche Jugend gesunden.« Und auf einmal stand er groß da und schwang wie einstmals die beschwörenden Arme: »Das Schicksal macht uns groß! Viel Feind, viel Ehr! Unsere Herzen in der Heimat pulsen bis zum letzten Schlag für unsere löwenmutige Jugend, die draußen steht mitten in Schlacht und Sieg!« Er begann zu zittern, Tränen flössen über seine Wangen. Er drückte mir innig die Hand und reichte mir einen Pack bester Havannazigarren.
»Tapferer Krieger«, sagte er, »nehmen Sie diese kleine Liebesgabe als bescheidenen Dank für Ihren Heldenmut«, und seine Stimme floß wieder in ein gerührtes Vibrieren, »ach, einmal - Gott gönne es mir - werden meine Helden wieder in dieser Stube sitzen!« Sein Blick glitt über seine kranke Frau, die bewegungslos da saß. »Und dankbare Eltern werden ihren Erzählungen lauschen wie einem Quell Ton Kraft und Jugend!« Jetzt weinte er offen und hemmungslos, drückte mir nochmals zum Abschied die Hand und stöhnte: »Und so wird am deutschen Wesen, hoffen wir, die Welt genesen!«
Ich sah ihn an, ich sah seine Frau an. Seltsam, wirklich seltsam, dachte ich. Das klang wie aus einer anderen Welt, die ich nie begriff. Sehr nachdenklich kam ich auf die Straße. -
In München sagte der Wachtmeister auf der Schreibstube ganz verdutzt zu mir: »Sind Sie schon wieder da?«
»Jawohl, Herr Wachtmeister«, sagte ich. Es war zu erkennen, daß der gute Mann Respekt vor mir hatte, denn er hatte nie mehr als München gesehen.
»Gehen Sie zum Oberarzt und lassen Sie sich untersuchen«, befahl er, denn er hatte Angst, daß ich Ruhr einschleppen könnte. Als hinreichend erholungsbedürftig bekam ich sofort Urlaub. Ich fuhr nach Hause. Da hatte sich vieles geändert. Mein Bruder Max war gefallen, meine Schwester Emma lag hoffnungslos an einer Lungenkrankheit darnieder, und unser altes Haus gehörte jetzt der fremden Frau und den Kindern meines gefallenen Bruders. Die Mutter und die Schwestern erwogen bereits wieder ihre Übersiedelung in das kleinere Anwesen, das sie schon einmal bewohnt hatten.
Maurus war noch nicht eingezogen und hatte in München noch immer die Stellung als Konditor, Nanndl lernte bei einem Friseur in der Stadt. Ich ging zu beiden nicht.
Es war eine Luft von gegenseitiger Feindschaft im Haus. Man sah voraus, lange geht das nicht. Ich wußte nicht recht, was ich hier sollte, und jeder Tag verstärkte mein Unbehagen. Meine Mutter rackerte wie gewöhnlich den ganzen Tag Sie buk jetzt auch das Brot, denn es gab keinen Gesellen. Ihre Haare waren schon grau meliert. Mitunter hockte sie todmüde da und stöhnte: »Das ist's jetzt mit diesem Scheißkrieg! ... Der Maxi ist hin und alles geht in andre Hände über ... Fünfunddreißig Jahr' hab' ich mich geplagt und jetzt kann ich gehn ...«
Eine bittere Verdrossenheit stand auf ihrem Gesicht.
Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene, 1965