Forlaget Columbus

Tyskland - fra Rødhætte til Rammstein

Tekst 15: Hans-Ulrich Treichel: Zu spät. (West)


Eigentlich gehöre ich nicht zu den Menschen, die ihre Kalender aufbewahren. Bis mir ein Freund einmal geradezu entsetzt vorhielt: »Was? Du wirfst deine Kalender fort?« Seitdem sammele ich die Kalender, sofern sie in einem archivierbaren Zustand sind. Auch den von 1989 habe ich aufgehoben. Allerdings hat er sich mit zwei anderen Kalendern verklebt. Der Kalender von 1989 klebt auf der einen Seite mit dem von 1988 und auf der anderen Seite mit dem von 1990 zusammen. Die verklebte Zeit. Ich lege die drei Kalender auf den Tisch und führe die Operation durch. Dabei hilft mir das große Messer, das ich als Brotmesser benutze, das aber in Wahrheit ein sogenanntes Bäckermesser ist und eine besonders breite Klinge besitzt. Am Ende habe ich drei beschädigte und schmuddelig-verklebte Kalender vor mir liegen, die ich am liebsten gleich entsorgen würde. 1988 und 1990 stecke ich vorerst in eine Klarsichthülle, das Jahr 1989 blättere ich durch, obwohl ich nicht besonders neugierig auf meine alten Termine bin. Schließlich läuft sowieso alles nur auf Uni- und Zahnarzttermine hinaus.

Ich öffne den Kalender trotzdem und lese Einträge wie Fachbereichsrat, Friseur, Grundkurs und, wie vermutet, Zahnarzt. Am 3. März 1989 war ich um 13.30 Uhr beim Zahnarzt. Am 16. Juni war ich wieder beim Zahnarzt, diesmal um 9.15 Uhr. Für den Nachmittag des gleichen Tages findet sich der Eintrag Olympia Ersatzteil abholen, an den ich mich sofort erinnere, denn es ging um ein Ersatzteil für meine Olympia Traveller Reiseschreibmaschine, das ich in einem Friedenauer Büromaschinengeschäft bestellt hatte. Ich sehe das Teil vor mir. Es handelte sich um eine Sperre für die Walze, die ich bereits zum zweiten Mal erneuern mußte. Ohne dieses Teil drehte die Walze durch.

Allerdings gibt es auch ein paar geheimnisvolle Einträge wie Sapporo Khan oder Judith. Jeweils um 18.00 Uhr. Judith taucht später noch einmal auf. Noch öfter als der Eintrag Zahnarzt kehrt der Eintrag Mutter anrufen wieder, woraus ich schließe, daß ich mich per Kalendereintrag daran erinnern mußte, meine Mutter anzurufen. Schon beginnt die Recherche mich zu deprimieren. Muß ich das alles wissen? Die Tatsache, daß ich mir trotz der Schreibmaschinenreparatur im Jahr 1989 einen Computer gekauft habe, entnehme ich einem Eintrag vom 5. Dezember, wo es heißt: Atari Mega 1. Ohne den Kalendereintrag wäre mir das Fabrikat des Computers niemals mehr eingefallen, und ich schließe nicht aus, daß es mein erster Computer war, schließlich habe ich mich noch wenige Monate zuvor mit der Reparatur der Schreibmaschine beschäftigt. Den Atari gibt es längst nicht mehr. Die Olympia Traveller steht in der Abstellkammer, falls irgendwann ein neues mechanisches Zeitalter anbrechen sollte.

Eine gewisse nachträgliche biographische Unruhe erzeugen in mir die Einträge Ankunft Hans Hotel Esplanade am 22. November und Hans Philharmonie am 25. November, auf die am 26. November die Einträge 13.00 Uhr Hans und 19.00 Uhr Hans folgen. Gleich zwei Treffen an einem Tag. Gesteigerte soziale Aktivitäten, allerdings einige Zeit nach dem Mauerfall. Die Tage um den 9. November scheinen völlig ereignislos verlaufen zu sein. Bettenlieferung heißt es am 6. November, 14-16 Uhr Grundkurs Benn am 8. November, und am 9. November findet sich nur ein einziges Wort: Arzt. Am 9. November 1989 bin ich offenbar zum Arzt gegangen, und zwar um 10.00 Uhr. Der Rest des Tages liegt im Nebel der Vergangenheit. Ich glaube mich zu erinnern, in der Tagesschau die Nachricht von der Maueröffnung gesehen zu haben. Ich bin aber weder nach der Tagesschau noch nach den Spätnachrichten mit den Bildern vom Grenzübergang Bornholmer Straße von Friedenau aus zur Mauer gefahren, sondern habe bis spät in die Nacht an meinem Schreibtisch gesessen. Denn am 10. November hatte ich laut Kalendereintrag schon wieder den Grundkurs Benn, der Kurs war offenbar vierstündig. Mittwochs und Freitags, jeweils von 16 bis 18 Uhr. Der Kurs am 10. November hätte aufgrund eines welthistorischen Ereignisses ja eigentlich ausfallen können. Aber er war nicht ausgefallen. Ich kann mich auch nicht erinnern, mit den Studenten über die 


Maueröffnung gesprochen zu haben. Die Mauer war ja ziemlich weit von Dahlem und der Freien Universität entfernt. Wir haben uns statt dessen mit Benn beschäftigt. Ich schließe nicht aus, daß es um Benns Gedichte ging und um Verszeilen wie: »Was ist der Mensch - die Nacht vielleicht geschlafen, / doch vom Rasieren wieder schon so müd«, »Einsamer nie als im August« oder auch »In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs«. Sehr schöne Zeilen.

Meiner Erinnerung nach bin ich erst am 11. November zur Mauer beziehungsweise zum Brandenburger Tor gefahren, obwohl es dazu keinen Eintrag in meinem Kalender gibt. Was hätte ich auch hineinschreiben sollen? »19.00-21.00 Uhr Mauerfall«? Den Abend des 10. November habe ich möglicherweise in einer Dahlemer Pizzeria verbracht, denn für eine echte Zeitzeugenschaft war es ohnehin zu spät. Selbst am 9. November wäre ich kein Zeitzeuge mehr gewesen. Man kann sich ja nicht ein historisches Ereignis erst in den Nachrichten anschauen und danach noch zu einem echten Zeitzeugen dieses historischen Ereignisses werden. Als Kinder sind wir gelegentlich auf dem Fahrrad dem ausrückenden Feuerwehrwagen gefolgt. Jetzt radelte ich mit zweitägiger Verspätung den Ereignissen hinterher und sah mir am Brandenburger Tor die Vopos beziehungsweise DDR-Grenzer an, die auf der Mauer standen und Richtung Westen blickten. Das war neu. Grenzer auf der Mauer. Und wir Westberliner davor. Viel mehr geschah nicht. Es geschah eigentlich gar nichts. Menschen aus Ostberlin waren keine zu sehen. Keine Umarmungen, keine knallenden Sektkorken, keine Trabis. Nur Westberliner, die die Grenzer anstarrten, und Grenzer, die mit ausdrucksloser Miene durch die Westberliner hindurchzusehen versuchten.

Meine Mauer ist nicht am 9. November gefallen, sondern in den Tagen oder Wochen danach. Zu einer Zeit, als die DDR noch existierte und doch alles schon vorbei war. Irgendwann bin ich nach Ostberlin gefahren, um noch einmal meine alten Wege zu gehen. Dabei waren es gar nicht meine alten Wege. Wo hätten die auch sein sollen? Vielleicht in Friedrichshagen, wo ich Verwandte hatte und mich an ein Picknick und an eine Art Autostrand am Müggelsee erinnern kann. Wir saßen im Sand, an den Wartburg gelehnt, und löffelten Früchte aus Einmachgläsern. Ich erinnere mich daran allerdings nur in Schwarz-Weiß, wie an Bilder eines Defa-Films. Bis nach Friedrichshagen bin ich im November 1989 nicht gefahren. Ich bin erst über die Oranienburger Straße gegangen und dann in der Gegend um die Ackerstraße herumgelaufen, vielleicht, weil die Ackerstraße in Döblins Berlin Alexanderplatz vorkommt. Alles sah wie immer aus, ewige DDR, und es roch auch so. Ostberliner November, feucht und leicht frostig. Ich hätte diesen Ostberliner November jetzt sehr gern sehr tief empfunden, wäre am liebsten barfuß über die brüchigen Gehwegplatten gelaufen, so wie ich einmal, Ende der siebziger Jahre, barfuß über einen hölzernen Steg in Alt-Ruppin am Ruppiner See gegangen war, mir dabei allerdings einen rostigen Nagel in den Fuß getreten hatte.

Hier war kein Holzsteg, auch kein See, aber hier war die von Braunkohleschwaden durchzogene Herbstluft, die gelbliche Straßenbeleuchtung, ein Laden der Volkssolidarität mit welken Broschüren im Schaufenster und ab und zu das Geräusch eines Trabis, der über das Kopfsteinpflaster rollte. Doch das erwünschte Gefühl stellte sich trotzdem nicht ein. Statt dessen ein geradezu wehmütiges Bedauern darüber, daß die Chance verpaßt war, noch einmal durch Ostberlin beziehungsweise die Hauptstadt der DDR zu gehen und mit allen Sinnen echten schlechten Sozialismus einschließlich der dazu -gehörigen frostigen Herbstluft zu erleben. Es schien alles wie immer an diesem Tag in der Ackerstraße. Aber zugleich war alles endgültig vorbei und vergangen. Kein Stein stand mehr auf dem anderen - historisch gesehen. Das ist auch gut so sagte mir mein politischer Verstand. Aber mein Lebensgefühl, das nur eine sehr lose Beziehung zu meinem Verstarb unterhält, sagte mir etwas ganz anderes: Zu spät.

Die Nacht, in der die Mauer fiel, Renatus Deckert, 2009

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