Tekst 7: Oskar Maria Graf, Was mich abhält, nach Deutschland zurückzukehren, 1962
Der Grund, weshalb ich nach dem letzten Weltkrieg nicht nach Deutschland zurückkehrte und die freiwillige Emigration oder vielmehr eine selbstgewählte Diaspora wählte, war der, daß ich nicht in ein Land gehen wollte, das von den Siegermächten und den von ihnen eingesetzten, gutgeheißenen und in jeder Hinsicht abhängigen Regierungen regiert wurde, was sich - meiner Meinung nach - bis heute nicht sonderlich verändert hat. Ich will mich nicht gleicherzeit von mehreren Regierungen regieren lassen, mir genügt eine einzige vollauf.
Niemand kann bezweifeln, daß die Zweiteilung des Landes in der Mentalität meiner Landsleute zum chronischen Zustand geworden ist. Man schreit in einem fort nach der Wiedervereinigung, denkt aber von oben bis ganz hinunter: »Hoffentlich bleibt uns dieses Übel erspart.« Der sichtbarste Beweis dafür, daß sich seither sozusagen auch innerlich eine Zweiteilung der Deutschen gefestigt hat: die Gattung besteht aus Bundesdeutschen und Zonendeutschen, die beide eine verschiedene Sprache sprechen. Der eine sagt »party« und meint damit Vergnügen, der andere versteht darunter »Partei« und empfindet sie als Last. Beide bemißtrauen sich, beide distanzieren sich voneinander wie arglistige Feinde, und das Tolle, das Erschreckende an diesem Feindsein ist, daß es Ihnen von anderen aufgepfropft wird. Ich beobachtete während meiner letztjährigen Deutschlandbesuche oft und oft wohlgenährte Westberliner an der Sektorengrenze. Sie schauten auf die von ihrer Arbeit im Westsektor heimradelnden Männer und Frauen wie auf völlig Fremde, etwa wie auf Menschen, die in einer Wildnis leben. Mit dem überheblichen Mitleidsblick des Satten auf den zerschlampten, unappetitlichen Bettler schauten sie auf diese Heimkehrenden ...
Klaus Wagenbach, Vaterland, Muttersprache,
Berlin, 1979