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Tekst 16: Robert Menasse: Die neuen Leiden des fremden Freunds. (West) uddrag


»In zehnJahren werde ich gefragt werden, ob ich mich erinnern kann, wo ich heute nacht gewesen bin. Ich muß mir merken: hier! Und ich werde gefragt werden, was ich gerade gemacht habe. Niemals vergessen: dies!« 

Diese Tagebucheintragung von der Nacht auf den 10. November 1989 sollte sich nicht ganz bewahrheiten. Denn zehn Jahre später, im November 1999, befand sich Deutschland in so großer Aufregung wegen der nahenden Jahrtausendwende, daß die Erinnerung an den zehnten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer davon fast verdrängt wurde. Nicht pathetische Erinnerungen an den Zusammenbruch der DDR, sondern nervöse Spekulationen über den Zusammenbruch aller Computer beschäftigten die Medien. Das Problem hieß »Y2K«, und dieses Kürzel bezeichnete die Gefahr, daß die weitgehend computergesteuerte Welt mit dem Wechsel ins Jahr 2000 (für die Computer ein Übergang zur Ziffernkombination 00, Synonym für »Nichts«) abstürzen könnte, das Internet und die Flugzeuge, und, schlimmer noch, die Börsen und der Welthandel.
(...)

Daß im Jahr 1999 Firewalls die Menschen mehr beschäftigten als die längst verschwundene Mauer, ist daher verständlich: Was ist schon der Fall einer Mauer gegen den Fall der Börsen? Wie bedeutsam ist ein historisches Datum neben Zukunftsoptionen und Termingeschäften? Was ist die Erinnerung an eine verschwundene Bedrohung im Vergleich, oder zeitgenössisch formuliert: in Konkurrenz mit einer akuten Bedrohung?

Wiederum zehn Jahre später ist nun »Y2K« vergessen. Auch das ist nicht verwunderlich: In der virtuellen Welt ist das gesellschaftliche Gedächtnis kein Speicher.
(...)

»Das gehört nicht hierher!« sagte mein Berliner Freund Konrad-Otto und schaltete das Tonbandgerät ab. Es tut mir leid, sagte ich, aber es fiel mir eben ein. Kannst du dich noch an »Y2K« erinnern? »Nein«, sagte er. »Doch! Ja, sicher!« Es interessierte ihn nicht.
»Hör zu«, sagte er, »es geht jetzt nur um die Nacht, in der die Mauer fiel. Wo warst du da, was hast du gerade getan, was waren deine Gefühle, woran kannst du dich erinnern? Kurz und prägnant. Alles klar?«
Ja, sagte ich.
»Kann ich wieder einschalten?«
Ja.
Konrad-Otto arbeitete für Radio Berlin-Brandenburg. Er bereitete einen Beitrag für den zwanzigsten Jahrestag der Maueröffnung vor. Kennengelernt hatte ich ihn just in der Zeit, als sich die Mahlsteine der Geschichte in Bewegung setzten, über die wir nun sprachen: Anfang September 1989, bei einem Symposium über »Entwicklungstendenzen der neuen deutschsprachigen Literatur« an der Universität Budapest in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut.
(...)

Konrad-Ottos These war pfiffig und frech. Er bezeichnete die DDR als den größten Schriftstellerverband der Welt, als Autorenrepublik. Millionen Menschen seien dazu angehalten und würden dazu ermuntert und gedrängt, wie Schriftsteller zu arbeiten: zu beobachten, zuzuhören, nachzufragen, Material zu sammeln, zu recherchieren, und dann alles in eine schriftliche Form zu bringen und zu erzählen. Dies habe die realistische Literatur revolutioniert und eine neue, avancierte literarische Form hervorgebracht, deren strukturelles Grundmuster die Stasi-Akte sei.
(...)

Konrad-Otto war damals noch mit mir per Sie - bis wir zufällig an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Izso utca vorbeikamen. Da waren Hunderte Menschen, die in die Botschaft eindrangen, am Zaun hingen, der den Vorgarten der Botschaft von der Straße trennte, die davor aufgestellten Absperrungsgitter zu überwinden versuchten, an das Tor schlugen, an der Fassade hochkletterten oder einfach auf dem kleinen Rasenstück vor dem Botschaftsgebäude lagen, wie Riesenschnecken zusammengerollt, beobachtet von ungarischen Polizisten, die ihre Schlagstöcke nur hoben, um in Fernsehkameras zu winken.

»Schau dir das an!« sagte Konrad-Otto. Seither sind wir per Du.
Er begriff schneller als ich. Das waren DDR-Bürger, die als Touristen nach Ungarn gereist waren, um über das exterritoriale Gebiet der BRD-Botschaft in den Westen ausreisen zu können. Er sagte, daß die DDR jetzt »ausrinne«, es sei nur eine Frage der Zeit, sagte er, bis die DDR nachgeben müsse. Werde die Mauer geöffnet, liefen die DDR-Bürger raus und das Kapital dringe ein. Das wäre das Ende der DDR. Damals, aus seinem Mund, hörte ich zum ersten Mal den Begriff »Wiedervereinigung«.
»Wenn es zur Wiedervereinigung kommt, dann wandere ich aus. Ich will nicht in einem neuen Großdeutschland leben - schreckliche Vorstellung!«
(...)


Was mir nicht aus dem Kopf ging, war der Begriff »Wiedervereinigung«. Wieso hatte Konrad-Otto sofort ganz selbstverständlich diese Formulierung verwendet, die, wir wissen es, wenig später allgegenwärtig war? »WIEDERvereinigung« - obwohl doch diese beiden Staaten, die BRD und die DDR, nie zuvor vereinigt gewesen waren. Es hatte alle möglichen Deutschlands gegeben, das von Tacitus beschriebene »Germanien«, ein topographisch nicht klar begrenztes Siedlungsgebiet verschiedener Völker, dann rund zweihundert deutsche Kleinstaaten und Fürstentümer, drei Reiche, eine Republik, kurz auch eine Räterepublik, und dann eben-diese beiden Staaten, eigentlich drei, wenn man, wie es jeder Kärntner fordert, auch Österreich zu den deutschen Staaten zählt. Aber es hatte in dieser ganzen Geschichte nie eine Vereinigung von BRD und DDR gegeben, weder politisch noch territorial - wieso sprach Konrad-Otto, und bald die ganze Welt, von »Wiedervereinigung«?

Da fiel es mir plötzlich ein. Wie hatte ich das vergessen können? Deutlich kamen die Erinnerungen. Alles stand mir wieder klar vor Augen. Auch und vor allem mein eigener, zwar kleiner, aber doch exemplarischer Beitrag zur Vereinigung dieser beiden deutschen Staaten.

Ich habe neben meinem Tagebuch, in das ich nach Möglichkeit täglich etwas hineinschreibe, ein zweites - ich nenne es »Das wahre Tagebuch«: Hier notiere ich die Wahrheit, und weil sie oftmals einige Zeit braucht, bis sie zutage tritt oder mir klar wird, kann ich diese Eintragungen naturgemäß immer nur rückdatiert machen. Im August 2009, nach dem Treffen mit Konrad-Otto, bei dem er mich nach meinen Erinnerungen an die Nacht, in der die Mauer fiel, befragt hatte, schrieb ich also in mein »Wahres Tagebuch«:

»10. November 1989. Als ich im Fernsehen die Bilder der Maueröffnung sah, sprang ich auf und suchte mein Briefmarkenalbum.« 
Eben dies sprach ich Konrad-Otto auf Band: Meine erste Reaktion, als ich die Bilder von der Maueröffhung im Fernsehen sah, und mir klar wurde, daß dies unvermeidlich zur Wiedervereinigung führen mußte, war, daß ich mich aufgeregt daran machte, mein Briefmarkenalbum zu suchen.

Ich merkte, wie Konrad-Otto kurz mit dem Gedanken spielte, das Tonbandgerät wieder abzuschalten, aber dann fragte er doch: »Warum? Was hat dein Briefmarkenalbum mit dem Fall der Mauer zu tun?«
Ich war zehn Jahre alt, erzählte ich, es muß das Jahr 1964 gewesen sein, als ich, so wie damals viele Kinder in diesem Alter, begann, Briefmarken zu sammeln. Ich ordnete sie in meinem Album nach Nationen: Österreich, Deutschland, England, Frankreich und so weiter. Es brauchte einige Zeit, bis ich beim Einordnen neuer Eroberungen, die ich eingetauscht hatte, erkannte, daß die »Deutschland«-Marken innere Unterschiede aufwiesen, so, daß sie zwei Gruppen bildeten: die bunteren, ästhetisch irgendwie lieblicheren, auf denen »Deutsche Bundespost« stand, und die etwas farbloseren, ästhetisch strengen, zugleich surrealen (im Zentrum ein dreibeiniger Hammer!), auf denen »Deutsche Demokratische Republik« stand. Die »Deutschland«-Abteilung in meinem Album zerfiel in zwei Lager, und auch wenn es mir nicht gleich aufgefallen war, nun konnte ich es nicht mehr übersehen.

»Nein«, sagte mein Vater. »Das ist kein dreibeiniger Hammer, sondern ein Hammer und ein Zirkel!« Und er erklärte mir, daß es zwei Deutschlands gab, zwei verschiedene deutsche Staaten. Ich glaubte damals meinem Vater alles, mehr noch: Was er sagte, war für mich gleichbedeutend mit einem Naturgesetz - aber zwei Deutschlands? Das stürzte mich in tiefe Verwirrung, das erschien mir unglaubwürdig und völlig unverständlich. Es war, als hätte er gesagt, daß ich zwei leibliche Mütter hätte, oder daß Horst Nemec nicht nm Im die Wiener Austria, sondern auch für Rapid spiele. Das ergab keinen Sinn, das konnte nicht sein.

Tagelang überlegte ich, meine Deutschland-Marken zu trennen, und in meinem Album zwei Deutschlands anzulegen. Ich hielt ja auch England und Schottland auseinander, obwohl sie zusammen das Vereinigte Königreich bildeten  - aber Deutschland und Deutschland? Ich zupfte mit meiner Pinzette im Album herum, steckte Marken da- und dorthin, sortierte sie auseinander, aber dann beschloß ich, die beiden Deutschlands doch wieder zu vereinigen, die Marken in Frieden und Eintracht beisammen zu lassen. Die Entscheidung wurde mir dadurch erleichtert, daß ich just in dieser Zeit zum ersten Mal fernsehen durfte. Mein Onkel, ein wohlhabender Import-Export-Kaufmann, war der erste in der Familie, der einen Fernsehapparat hatte. Und ich durfte zu ihm gehen, um mir Übertragungen von den Olympischen Spielen anzusehen. Deshalb weiß ich auch, daß es das Jahr 1964 war: da fanden die Olympischen Spiele in Tokyo statt.

Hätte ich nicht gerade das Problem mit meinem Briefmarkenalbum gehabt, es wäre mir vielleicht gar nicht aufgefallen. Aber so bekam es für mich eine enorme Bedeutung und blieb unvergessen: Sportler aus beiden Deutschlands traten als gemeinsame Mannschaft an: »Vereinigtes Deutschland«.
Die Mauer wurde 1961 gebaut, sagte ich zu Konrad-Otto, und drei Jahre später gab es bei den Olympischen Spielen ein vereinigtes Deutschland.
»Du spinnst«, sagte Konrad-Otto, »das kann nicht sein.«
Doch. Ich kann mich erinnern. Das olympische Länderkürzel der beiden deutschen Staaten lautete EUA - »Équipe unifiée dAllemagne«. Und die gemeinsame Hymne war übrigens Beethovens Neunte, die Ode an die Freude - die beiden deutschen Staaten traten also als EU an, mit der heutigen Europahymne! Ist das nicht irre?

»Ich glaube dir kein Wort«, sagte er.
Du kannst ja zu Hause googeln, sagte ich. Jedenfalls: Ich dachte damals, daß mir diese Vereinigung das Recht gibt, auch in meinem Briefmarkenalbum die beiden Deutschlands zu vereinigen. Deshalb kann man nach 1989 füglich von »Wiedervereinigung« reden. Und das ist auch der Grund, warum ich in der Nacht, als die Mauer fiel, mein altes Briefmarkenalbum suchte. Du hast mich nach meinen Gefühlen gefragt. Nun, ich fühlte mich, als ich mein Album wiederfand, von der Geschichte bestätigt.
Konrad-Otto schaltete das Tonbandgerät ab, sagte: »Ganz im Ernst, die Geschichte vom vereinigten Deutschland bei der Olympiade stimmt?«
Ja, sagte ich, es war alles schon angelegt. Schau dich an!
»Mich anschauen? Was meinst du?«
Wer war deutscher Kanzler, als du zur Welt kamst?
»Konrad Adenauer.«
Und wer war DDR-Ministerpräsident?
»Weiß ich nicht.«
Otto Grotewohl.
»Das ist mir noch nie aufgefallen«, sagte Konrad-Otto. Es war ihm eine leichte Rührung anzumerken. Tja, sagte ich, das ist wohl charakteristisch für die deutsch-österreichische Freundschaft: Wir kennen eure Geschichte, und ihr glaubt uns unsere.

Wir tranken unser Bier schweigend, schließlich sagte Konrad-Otto: »Du hast es wirklich noch, dein Briefmarkenalbum?«
Nein, sagte ich. Ich habe es meiner Tochter geschenkt, als sie zehn war und zu sammeln begann. Das war im Jahr 2000. Sie hat alle meine Marken in ihre Sammlung eingeordnet und - weißt du, was sie in ihrer pedantischen Art zu mir gesagt hat? Papi, du hast ja zwei Länder, BRD und DDR, vermischt und zu einem gemeinsamen Kapitel gemacht. Ist dir das nie aufgefallen? Typisch!
»Und?«
Sie hat die Marken dann säuberlich getrennt.
»Was will uns das sagen?«
Zwei Bier!

Die Nacht, in der die Mauer fiel, Renatus Deckert, 2009

 

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