Tekst 19: Thomas Tuma: Flagge zeigen. Der Spiegel 3.7.2006
Deutschland-Fähnchen sind schon jetzt der Konsumschlager 2006 - und ihr Geld wert, denn die Selbstreflexionen gibt's gratis obendrauf.
Manche Themen können unheimlich groß sein - und dabei furchtbar klein daherkommen. Die Wir-sind-wieder-wer-wer-sind-wirdenn?-Debatte etwa hat mich mit einer schlichten Frage kalt erwischt: Meine Tochter wollte plötzlich ein Deutschland-Fähnchen.
Sie ist neun Jahre alt. Ich sagte ihr, dass ich mir eher eine Fingerkuppe abschlagen würde oder das Auto verkaufen, als schwarz-rot-golden zum Einkaufen zu fahren.
Konsequenz ist in der Kindererziehung sehr wichtig. Einen Tag später flatterten ZWEI Fähnchen am Wagen.
Ich bin der globalen Fähnchen-Vertriebs-Mafia mittlerweile durchaus dankbar für das reichhaltige Angebot an Devotionalien. Die Diskussion zwischen Ichwill-nicht und Sie-kriegt hat mir allerlei verständlich gemacht, unter anderem mich selbst. Ein deutscher Dialog, Teil I:
Vater: Wozu brauchst du 'ne Fahne?
Kind: So halt. Alle haben jetzt eine.
Vater: Und wenn alle aus dem Fenster springen, springst du hinterher?
Kind: Nee. Ich will doch nur 'ne Fahne.
Vater: Und von welchem Land?
Kind: Deutschland natürlich.
Vater: Kannst du mir einen vernünftigen Grund nennen, weshalb wir ein deutsches Fähnchen brauchen?
Kind: Weil's cool aussieht. Und wir wohnen doch hier.
Okay, sie ist neun. Es hätte nicht wirklich was gebracht, mit ihr einen Parforceritt durch 200 Jahre deutsche Geschichte zu starten - Flaggenkunde in Zeiten von Heine, Holocaust oder Hartz IV sozusagen. Was hätte das auch mit den Fähnchen zu tun? Eben.
Eine ähnlich gute Frage wie die, ob sich in puncto Patriotismus in Deutschland wirklich was verändert hat, nur weil wir gerade ganz ordentlich Fußball spielen. Es ist wohl auch eine Sache der Präsentation: Früher haben Zeitungen und Sender das Thema meist mit Skins in bekleckerten Nationaltrikots bebildert. Scham war ein schon ästhetischer Reflex. Heute sind die gezeigten Fans generell vollbusige Germanistikstudentinnen aus Leipzig. Mindestens.
Ich weiß nicht, wo die ganzen Deppen geblieben sind. Vielleicht arbeiten sie jetzt als Ein-Euro-Jobber in ostdeutschen Fahnenfabriken. Jedenfalls sah das gefühlte Deutschland früher schrecklich aus. Heute wird es uns als urban, jung, sexy und schon deshalb modern verkauft.
Darauf fallen auch viele Feuilletons rein. Sie sind die Trittbrettfahrer eines Booms, den sie selbst nicht einmal losgetreten haben, von dessen frischer Optik sie nun aber profitieren. Der Trend zum Flaggezeigen stammt nämlich nicht von älteren Herren, die nun als neudeutsche
Patriotismus-Beauftragte durch Talkshows tingeln. Er wurzelt einerseits in unserem Nachwuchs, andererseits weit unten. Eine Bauch-Sache - emotional, gesellschaftlich, generationsspezifisch.
Es ist ein bisschen wie mit "Big Brother" oder Dieter Bohlen. Solche Phänomene der Pop- beziehungsweise Prollkultur ploppen hoch wie Blasen in einer Gulaschsuppe, werden aufgrund ihres hitzigen Erfolgs salonfähig und am Ende auf höchstem Niveau zerkocht.
Es gibt inzwischen fast so viele Jugend-Versteher, Prollkultur-Erklärer und Fußball-Intellektualisierer wie früher Bundestrainer. Dabei geht es doch nur darum, dass das Runde ins Eckige passt - und die Fahne ans Autofenster? Das Geheimnis des Fähnchenerfolgs ist: Jede Gegenwehr wirkte schnell unentspannt, wo wir doch jetzt so super locker drauf sind. Ich wollte aber lange nicht locker werden.
Kind: (augenrollend) Dann zahl ich die Fahne eben von meinem Taschengeld.
Vater: Darum geht's doch gar nicht.
Kind: Sondern?
Vater: Wir könnten ja auch zwei Fähnchen kaufen.
Kind: Welche denn noch?
Vater: Na ja, Brasilien zum Beispiel.
Kind: Wieso denn Brasilien?
Ja, warum eigentlich? Weil du, verehrte Tochter, nicht den Schimmer einer Ahnung hast, wie überfrachtet dieses bescheuerte Fahnenthema bisher war. Weil dein Dad mit zwei Fähnchen zum Ausdruck bringen könnte, was für ein supernetter Weltbürger er ist. Und dass vor seinem Fußball-Patriotismus kein Nachbar mit Migrationshintergrund (weder in der Straße noch auf dem Planeten) Angst haben muss.
Es ist ja nicht mal so, dass ich aus ideologischen Gründen gegen das Fähnchen wäre. Selbst unsere französische Nachbarin hat nicht die Trikolore am Auto, sondern l'Allemagne! Ich wollte Schwarz-Rot-Gold aber auch nicht als Ausdruck schleichender Normalisierung spazieren fahren. Das wäre ja mindestens ebenso bescheuert.
Kurz darauf flackerte links Brasilien, rechts Schwarz-Rot-Gold. Es war ein typischer Große-Koalitions-Kompromiss, der zugleich verriet: Deutschland allein traut der Fahrer (sich noch) nicht. Es war komplett bescheuert. Ich war bescheuert - und zog die Brasilien-Fahne dann persönlich wieder ein.
Nach dem Erreichen des Halbfinales machte ich mit dem Ding endgültig meinen vorläufigen Frieden. Denn wahrscheinlich geht es wirklich nur ums Lustig und sonst nix. Wahrscheinlich wird das Fähnchen von breitesten Bevölkerungsschichten als Party-Dekors wahrgenommen und akzeptiert wie ein Wackeldackel im Fondsfenster. Beide sagen: Achtung, der Fahrer ist leicht bekloppt, aber harmlos! Der tut nix. Der will nur spielen.
Entspannen wir uns also! Es war auch schon anstrengender, deutsch zu sein.