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Tekst 2: Huch, Nationalgefühl?, 1947


Es ist mir ein Bedürfnis, meine Freude darüber auszusprechen, daß Schriftsteller sich aus allen Zonen zahlreich eingefunden haben. Das gibt das Gefühl, in Deutschland zu sein, nicht nur in einem Teil, sondern im ganzen, einigen Deutschland. Die Dichter und Schriftsteller haben eine besondere Beziehung zur Einheit, nämlich durch die Sprache. Die Sprache scheidet ein Volk von anderen Völkern, aber sie hält auch ein Volk zusammen. Die Schriftsteller sind die Verwalter der Sprache, sie bewahren und erneuern die Sprache. Sie bewegen durch ihre Sprache die Herzen und lenken die Gedanken. Durch die Sprache sind sie auch Verwalter des Geistes; denn »die Sprache ist ja die Scheide, in der das Messer des Geistes steckt.« In der Zeit als Italien von vielen fremden Fürsten regiert war, errichteten die Italiener in allen Städten ihrem größten Dichter Dante Denkmäler: es war das Symbol ihrer Einheit, die politisch nicht bestand. Wir Deutschen hätten es nicht so leicht: die beiden größten Meister unserer Sprache, Luther und Goethe, werden nicht von allen Deutschen gleicherweise gekannt und geliebt. Aber wir wollen jetzt absehen, von den großen Dichtern der Vergangenheit - jede Zeit hat ihre besonderen Probleme, Gefahren und Nöte, und die lebenden Schriftsteller müssen die Probleme erfassen und diesen Gefahren begegnen.

Kaum je in unserer Geschichte ist die Aufgabe der geistigen Führung so schwer gewesen, wie jetzt. Es hat wohl auch früher scharfe Konflikte gegeben - im Zeitalter der Glaubensspaltung zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges und in der letzten vergangenen Zeit; aber am schwersten ist es doch in einer Zeit, in der fast alles fragwürdig geworden ist, und wo alle Bemühungen auf Hoffnungslosigkeit, Verbitterung, die Gleichgültigkeit der Entkräftung stoßen. In welchem Sinn nun die Aufgabe durchgeführt wird, das muß der Überzeugung und dem Gewissen eines Jeden überlassen bleiben; man kann nur wünschen. Wenn ich Wünsche äußern darf, so bezieht sich einer auf das Nationalgefühl, von dem in letzter Zeit oft gesprochen und geschrieben wurde.

Man hat den Deutschen ein zu starkes Nationalgefühl vorgeworfen; ich möchte eher sagen, wir hätten ein zu schwaches oder besser ein teils zu schwaches, teils zu starkes. Das hängt, wie ich glaube, mit dem historischen Erbe zusammen, das uns zuteil geworden ist. In den Anfängen unserer Geschichte übernahmen die Deutschen vereint mit den Italienern den römischen Weltreichgedanken und waren 


demzufolge universal und partikularistisch eingestellt; Universalismus und Partikularismus pflegen zusammenzugehen. Das Einheitsgefühl war schwach, die deutschen Kaiser mußten sich jeweils ihr Reich erst erobern, und keiner hat es ganz in seine Hand bekommen. Allmählich bildeten sich die anderen Nationen, zum Teil an Deutschland angrenzend, zu Einheitsstaaten mit starkem Nationalgefühl. In den Beziehungen zu diesen bekam der deutsche Universalismus einen anderen Charakter - es wurde zur Schwäche, beinahe zur Charakterlosigkeit. Man weiß, daß lange Zeit nur die unteren Volksklassen deutsch sprachen, die höheren Schichten sprachen französisch. Ein preußischer König sagte von sich selbst, er spreche deutsch wie ein Kutscher. Noch Napoleon verhöhnte die Deutschen, sie seien leicht in die Netze gegangen, die er ihnen gestellt habe, befehdeten sich untereinander und merkten den äußeren Feind nicht. Als dann endlich, von Preußen unterbaut, ein deutscher Einheitsstaat mit entsprechendem Nationalgefühl entstand, waren die Deutschen voll Glück und Stolz, daß sie nun auch das besaßen, was die anderen schon lange hatten, und äußerten ihren Stolz wohl etwas prahlerisch. Das Ausland, das sich durch diese Veränderung einer neuen Kombination gegenübergestellt sah, empfand das Neue als störend und beinahe unberechtigt, und es gab auch Deutsche, die dem so stark betonten Nationalgefühl gegenüber zurückhaltend waren, zum Teil, weil sie es nicht mitempfanden, zum Teil, weil sie den lauten Patriotismus geschmacklos fanden. Es blieb etwas Unorganisches; auf der einen Seite die Neigung, fremde Nationen schwärmerisch zu bewundern und die eigene herabzusetzen und zu bemäkeln, auf der anderen im Gegensatz dazu ein heftig hervorbrechendes, herausforderndes Nationalgefühl. Hier wäre eine Besserung wünschenswert.

Allerdings ist es außerordentlich schwer, etwas zu lehren oder beizubringen, was naiv sein soll, was eigentlich seine Berechtigung daraus zieht, daß es natürlich und selbstverständlich ist. In der Bibel ist uns gesagt: liebe deinen Nächsten, wie dich selbst. Es gilt auch von den Nationen; daß jede sich selbst liebt, ist selbstverständliche Voraussetzung. Über die Selbstliebe sollte sich dann die Liebe zu den anderen entfalten. Die Schriftsteller müßten wohl, um ihrer Aufgabe zu genügen, ihre Lehren weniger vorschreiben als vorleben, indem sie Weltbürger werden, aber zugleich und in erster Linie Deutsche.

Klaus Wagenbach, Vaterland, Muttersprache, Berlin, 1979

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