Forlaget Columbus

Tyskland - fra Rødhætte til Rammstein

Tekst 14: Clemens Meyer, Als wir träumten


Die Schule brannte. Wir lagen im Treppenhaus und in den Gängen, wir konnten nicht mehr raus. Weiter unten schlugen Granaten ein. Mark kam die Treppe hochgestolpert, ein Schild hing um seinen Hals, »Granatsplitterverletzung« stand da in großen schwarzen Druckbuchstaben. Er blieb ein paar Stufen unter mir liegen. 

»Scheiße, mich hat's erwischt«, sagte er leise.
 »Wo denn genau?« Ich lehnte meinen Kopf ans Treppengeländer. 
Er zeigte auf sein Schild. Ganz unten stand in kleiner Schrift und in Klammern »im Bauchbereich«.
»Granatsplitter im Bauch, das war's«, sagte ich, »das is wie 'n Bauchschuss, da gehste drauf. Tot!« »Quatsch, die holen mich doch gleich raus!« 
»Bringt auch nichts, da verbluteste innerlich.«
»Halt die Fresse, Danie!« Er drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Er war jetzt ganz still, und ich konnte ihn atmen hören. Das Treppengeländer drückte an meinen Hinterkopf, und ich rutschte näher zur Wand. »Wenn du 'ne Knarre hättest«, sagte ich, »dann müsstest du dich selbst erschießen. Würdest du das machen?« Er antwortete nicht, sicher hatte er Schmerzen. Wie der Typ in dem Western, der sich einfach erschossen hat, in den Kopf, weil er wusste, dass er nicht durchkommt. Ich war froh, dass ich nichts am Bauch hatte. Ich hob meinen Kopf und hustete laut, denn ich hatte ja ein paar Brandwunden und eine Rauchvergiftung, obwohl die nicht auf meinem Schild stand. Ich hustete noch lauter, damit sie mich hören und rausholen konnten. Jemand rannte oben durchs Treppenhaus, dort lag Katja. Sie hatte sich neben die Tür auf eine Decke gelegt, und als ich mich neben sie legen wollte, hatten die blöden Sanis mich weggeschickt. »Brandverletzungen und Weichteilwunden im Ersten und Zweiten«, hatten sie gesagt. Auf Katjas Schild stand »Schwere Kopfverletzung (wahrscheinlich Steckschuss)«. Sie war Gruppenratsvorsitzende und hatte sich den besten Platz und die beste Verletzung ausgesucht.

»Brandwunden sind harmlos, da lässt man dich liegen, das ist denen egal, da kommt eh nur bisschen Wasser drauf!« Mark hatte sich wieder umgedreht und tippte grinsend auf sein Schild. »Mich müssen sie aufschneiden, bei mir muss es schnell gehen, da kommen die Mädchen aus der Zehnten, und dann kann ich meinen Kopf auf ihre Titten legen!« Da kamen sie wirklich die Treppe runter, aber ihre Trage war schon voll, sie hatten Katja dabei, ihr Kopfschuss-Schild lag auf ihrer Brust, sie hatte noch keine richtigen Brüste, nur ein ganz kleines bisschen im Sportunterricht und auch bei den Pioniernachmittagen, wenn sie eine Rede hielt und ihren Oberkörper so schön nach vorne bog. Ihr Kopf wackelte auf der Trage hin und her, Mensch, passt doch auf, da ist doch irgendwo 'ne Kugel drin! Sie legte ihre Hand unter ihren Kopf und lächelte mir zu. Ich hielt mein Schild fest und lächelte zurück. Die beiden Mädchen aus der Zehnten trugen braune Armeehemden, die sie über der Brust aufgeknöpft hatten (so groß waren die gar nicht), sie hatten die Ärmel hochgekrempelt und machten ziemlich viel Lärm mit ihren Stiefeln. Mark lag jetzt vor ihnen, mitten auf der Treppe. »He, und ich, was ist mit mir, soll ich hier verrecken, oder was?« 

»Na, jetzt mach doch mal Platz, du kommst schon noch dran!« »Bauchschuss, ich hab 'n Splitter im Bauch, Granatsplitter, riesengroß!«
Die beiden lachten und stiegen einfach über ihn drüber. Ich blickte Katjas Kopf hinterher, der wieder neben der Trage baumelte.
 »So 'n Mist, Danie, mir tut langsam der Arsch weh!« 
»Siehste, wer bleibt nun liegen?«
»Lass mich doch in Ruhe!« Er drehte sich wieder zur Wand.
 »Weißt du, was die mit mir machen? Ich hab doch 'ne Rauchvergiftung, eine schwere sogar. Mundzumundbeatmung, verstehste!« 
»Quatsch!« Mark hatte sich aufgerichtet und blickte mit großen Augen zu mir hoch. »Is doch Quatsch, oder?«
 »Nee, nee, kannste mir glauben, hat mir einer aus der Sechsten erzählt, der hatte das Gleiche wie ich jetzt, letztes Jahr. Schwere Rauchvergiftung!«
»Du spinnst doch, bei dir steht doch gar nichts von Rauchvergiftung und auch nicht schwer!«
»Nee, aber Rauchvergiftung, das ist immer schwer, das müssen sie nicht extra draufschreiben. Bei Brandwunden hast du immer 'ne Vergiftung, ich war doch mitten im Feuer drin! Und die müssen ja alles so machen wie in echt!« Ich hustete und röchelte und hielt mich am Geländer fest.
»Also die knutschen dich ab, ich meine richtig, und dabei pressen sie dir Luft rein?«
»Genau, aber natürlich nicht zu viel Luft, weil du ja in Ordnung bist, aber sie müssen's ja üben. Sie stecken dir auch die Zunge rein, weil sie ja gucken müssen, ob du deine Zunge nicht verschluckt hast, so was kommt nämlich vor.« 

»Danie, du veräppelst mich!«
»Nein, Ehrenwort. Pionierehrenwort!« Ich hob meine Hand. »Sie wühlen mit ihrer Zunge in deinem Mund rum, und pass auf, vielleicht gefällt ihnen das sogar, klar, das gefällt denen. Bei mir auf jeden Fall, da kenn ich mich aus, Mark, und dann können sie nicht mehr aufhören damit!« 
»Und ihre Brüste, Danie?«
»Klar, die liegen auf dir drauf, die fühlst du dann richtig!«
»Los komm, wir tauschen!« Er nahm sein Schild ab und hielt es mir vors Gesicht. 
»Nee, vergiss es!«
»Danie, jetzt hör doch mal, Bauchschuss ist auch schön, da tasten sie deinen Wanst ab, da wirste richtig gestreichelt, das machen nur die Weiber, verstehste, das dürfen nur die Mädchen machen, weil sie doch geschicktere Finger haben!«
»Nee, Mark, vergiss es!«
»Jetzt guck doch mal, was hier steht: Bauchbereich! Verstehste, Danie, Bauchbereich!«
»Ich will nicht, Mark, nee, ich will nicht tauschen. Hau doch ab mit deinem blöden Splitter!« Ich rutschte von ihm weg zur Wand. Er kam mir langsam hinterher.
»He, jetzt warte doch mal, jetzt hör mir doch mal zu, Bauchbereich, verstehste, da müssen die alles kontrollieren!«
Ich schubste ihn weg. »Ich will dein scheiß Schild nicht, kapierste! Is meine Rauchvergiftung! Lass mich jetzt in Ruhe mit deinem scheiß Bauchschuss!«

 


»Bitte, Danie, jetzt gib's mir doch, jetzt tausch doch, wir sind doch Freunde!« Er griff nach mir und meinem Schild, und ich schlug seine Hand weg. Sofort war seine andere Hand an meinem Pullover, ich stand auf, trat nach ihm, er hielt mein Bein fest, wir rollten die Treppe runter. Der Strick von meinem Schild verdrehte sich um meinen Hals, Mark fiel auf mich drauf, und sein Knie bohrte sich in meinen Bauch. »Mark!« Ich konnte nicht richtig schreien, weil ich keine Luft mehr bekam. »Mein Schild, Danie, gib's her! Immer willst du alles für dich!« »Mark, bitte!« Jetzt ließ er endlich los, wahrscheinlich war ich schon ein bisschen blau im Gesicht. Ich holte tief Luft. »Biste verrückt, Alter!«

Zwei Beine. Zwei braune Lederschuhe. Zwei Bügelfalten direkt vor meinem Gesicht. Ich drehte mich weg und blickte nach oben. Der Direktor. Mark rollte sich von mir runter, die Schnur von meinem Schild war gerissen, und es fiel mir vom Hals, als ich aufstand. 
»Name, Klasse.« 
»Mark Bormann, Klasse 5b.« 
»Daniel Lenz, Klasse 5a.«
»Wir kennen uns, Daniel, nicht wahr?« Er sah mir direkt in die Augen, und ich nickte und blickte an ihm vorbei an die Wand. »Ihr wisst doch, dass wir heute Besuch haben?« Wir nickten. »Ihr wisst also, dass wir heute Besuch haben.« 
»Ja, Herr Direktor«, sagten wir leise.
Er beugte sich runter und hob mein Schild auf. »Du hast also Brandverletzungen, Daniel.« 
»Ja«, sagte ich, wieder ganz leise.
»Also, Daniel, stell dir mal ein Kind vor ... in Nikaragua. Du weißt doch sicher, was in Nikaragua passiert?«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich nicht so genau wusste, was in Nikaragua passierte. 

»Ein Kind mit einer Brandverletzung wartet auf Hilfe. Es wartet auf ausgebildete Hilfskräfte. Und es hat Schmerzen, und es versucht, ruhig liegen zu bleiben.« Der Direktor knotete die Schnur wieder zusammen und hängte mir das Schild um den Hals. »Du bist doch ein guter Schüler und Pionier, Daniel. Du weißt doch, dass unser Wehrkundeunterricht für unsere FDJler und FDJlerinnen sehr wichtig ist, damit sie lernen, verletzten Kindern zu helfen.« 

»Ja«, sagte ich leise.
Er trat einen Schritt zur Seite und stellte sich vor Mark.
 »Mark, du weißt doch sicher auch, wer heute in unserer Schule zu Besuch ist.«
Mark hatte eine Hand in seiner Hosentasche und zog sie wieder raus. »Die Nationale Volksarmee, Herr Künzel!«
»Ein Offizier der Nationalen Volksarmee, Mark. Unsere Schule ist bekannt für ihren guten Wehrkundeunterricht. Und unsere FDJler und FDJlerinnen sind auf eure Zusammenarbeit angewiesen, und ich erwarte«, er drehte sich wieder zu mir, »ich erwarte, dass ihr in Zukunft, und damit meine ich ab jetzt sofort, derartige Störungen unterlasst und diszipliniert mitarbeitet.«

»Ja, Herr Künzel«, sagte Mark, »ja«, sagte ich.
Er nickte ein paar Mal und rieb sich mit der Hand übers Kinn, dann ging er die Treppe nach oben. Bevor er durch die Tür auf den Gang trat, drehte er sich nochmal um. »Denkt daran: diszipliniert wie gute Pioniere!« Er lächelte und verschwand. 
(hertil 6 ns. Med resten 8,3 ns)

»Einen Splitter wünsch ich dem«, flüsterte Mark, »nein, am besten zwei, genau in den Wanst. Eine Granate, die genau neben ihm hochgeht!«
»Du«, sagte ich und setzte mich wieder auf meine Treppenstufe, »das mit den Mädchen hab ich mir doch nur ausgedacht...« »Ach komm, das sagst du doch jetzt bloß, damit du sie für dich alleine haben kannst.« Er hockte sich drei Stufen unter mich und drehte sich zur Wand. Ich hörte auf die Geräusche im Schulhaus. Über uns liefen welche, irgendwo rief jemand was, es klang wie »Brennt's hier?« und hallte in den Gängen, Türen wurden zugeknallt. Dann kamen wieder ein paar Sanis an uns vorbei, diesmal waren es Jungs und Mädchen, sie unterhielten sich und lachten und beachteten uns gar nicht, denn alle Tragen waren besetzt.

»Richtig scheiße ist das«, sagte Mark, und seine Stimme klang ganz dumpf, weil er gegen die Wand sprach, »sollen sie uns doch liegen lassen, diese Stinker, sollen sie uns doch den ganzen Tag hier liegen lassen, mir ist das egal!«
»Nicht so laut, der schnüffelt bestimmt wieder irgendwo rum.« 
»Du, Danie, ich sag dir, wenn Rico hier wäre ...« 
»Bitte, hör auf mit Rico ...« 
»Tut mir Leid, Danie, meinte doch bloß ...«
Ich kroch ein paar Stufen weiter nach oben, von dort konnte ich aus dem Fenster blicken. Ich sah die Sanis mit ihren Tragen über den Schulhof laufen, am Hintergebäude vorbei, Richtung Sportplatz. Dort waren die Zelte aufgebaut, in denen wir behandelt werden sollten. Ich konnte sie sogar sehen, wenn ich den Kopf ein wenig hob; sie waren grün, und wenn ich blinzelte, sah es aus, als wäre dort ein dichter Wald. Ich schloss die Augen. Unten knallte eine Tür, dann kamen sie die Treppe hoch. »Hier«, schrie Mark, »hier sind wir, Mensch, jetzt holt uns doch endlich raus!« Zwei Mädchen kamen zu mir, es waren die beiden von vorhin, bei Mark blieben zwei Jungs stehen. »Nein«, sagte er, »das ist ungerecht, Danie, jetzt sag doch mal was!« »Mach nicht so 'n Krach«, sie packten ihn am Kopf und an den Füßen und rollten ihn auf die Trage, die sie neben ihn gestellt hatten. »Brandverletzungen.« Die beiden Mädchen beugten sich über mich, eine hielt mein Schild. Sie hatten beide dunkle Haare, fast schon schwarz. »Brandverletzungen sind nicht so schlimm, das müssen wir erst mal kühlen.« »Rauchvergiftung«, sagte ich und rutschte auf die Trage, »ich hab noch 'ne richtige Rauchvergiftung!« Die beiden lachten, dann rückten sie mich zurecht, und ich blickte in die Ausschnitte ihrer Hemden, sie hatten ihre Brüste nicht gut verpackt. »Glaubt dem kein Wort«, rief Mark eine Treppe tiefer, »der lügt, der lügt doch nur mit seiner Vergiftung!« Die beiden lachten wieder, dann hoben sie die Trage an und gingen langsam die Treppe runter. Ich lag mit den Füßen nach vorn und blickte auf die Brüste über mir, die sich bei jeder Treppenstufe im Hemd bewegten. Dann waren wir unten, und sie trugen mich über den Hof. Die beiden Jungs liefen viel schneller mit Mark, sie waren schon fast am Hintergebäude.

Clemens Meyer, Als wir träumten, 2007 

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