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Tekst 16: Jana Hensel, Zonenkinder

Mach mit, mach's nach, mach's besser!  

Über Körperkultur und Sport
Keiner von uns hat das Tor von Jürgen Sparwasser live gesehen. 1974 waren wir noch zu klein oder gar nicht auf der Welt. Wir kennen es nur vom Hörensagen und halten es eigentlich für eine Erfindung. Das ist das Trauma unserer Generation. Schon in den Achtzigern nahmen wir es unseren Eltern nicht mehr ab, dass die DDR überhaupt bei einer Fußballweltmeisterschaft teilnehmen durfte und dass ausgerechnet wir es gewesen sein sollten, die gegen die Bundesrepublik ein Tor geschossen hatten. Solange wir nämlich Pierre Litbarski, Lothar Matthäus und die anderen kannten, hatten sie nur gegen Italien und Argentinien verloren. Jürgen Sparwasser war eine Lüge. Und weil wir den letzten großen Triumph der DDR ein für alle Mal verpasst hatten, mussten wir fortan, also unser ganzes Leben lang, für die Bundesrepublik sein.

Wenn mein Sportlehrer von der Stimmung im Hamburger Volksparkstadion und von dieser wunderbaren 72. Minute schwärmte, die er natürlich nur aus dem Fernsehen kannte, gestand er uns immer erst kurz vor dem Pausenklingeln, dass es dem Westen trotz jener Niederlage am Ende gelungen war, Fußballweltmeister zu werden. Er schämte sich an dieser Stelle ein bisschen, und wir Kinder konnten aufatmen. Jetzt war wieder Sieger, wer immer Sieger war. Hier war die Geschichte in ihren Bahnen und unser Weltbild in Ordnung.

Während unserer Kindheit war die DDR auf dem Höhepunkt ihrer sportlichen Erfolge, und dennoch mangelte es uns jungen Staatsbürgern irgendwie an Gelegenheit, für unser Land zu sein. Die Olympiade in Moskau, an die sich ja nur noch die großen Brüder erinnern konnten, stand für uns im Nachhinein unter dem Verdacht der One-Man-Show. Niemand vermochte glaubhaft zu versichern, dass es eine große Kunst gewesen war, dort zu gewinnen, wo es keine Gegner gab. Umso freudiger fieberten wir vier Jahre später Los Angeles entgegen. Wie lange hatten wir auf diese Spiele gewartet! Endlich waren auch wir reif für Olympia. Wir konnten den Medaillenspiegel allein verfolgen und interpretieren, und als wir im Sommer zuvor in der Leichtathletik sogar den direkten Ländervergleich gegen Amerika gewonnen hatten, da wussten wir, 1984 würde unser großes Jahr. Aber dann kam die Sache mit dem Boykott dazwischen, und auch wenn wir gern glauben wollten, dass Amerika ein schlechtes Land sei und es für unsere Diplomaten im Trainingsanzug wegen der hohen Kriminalitätsrate in der Umgebung der deutschen Unterkünfte besser sei, zu Hause zu bleiben, war ich doch morgens um halb vier, auf dem Sofa in eine Decke gewickelt, todunglücklich, als Michael Groß ein ums andere Mal das Siegertreppchen bestieg. Die Nationalhymne der Gegner kannte ich am Ende jedenfalls besser als unsere eigene.

Als am Ende desselben Jahrzehnts die Boykotte von Seoul und Calgary standen, war unser Leben schon entschieden. Wir hatten längst zwei Gesichter und uns sicher zwischen den Stühlen eingerichtet. Wir fanden es nicht mehr seltsam, stets für den jeweils besseren Deutschen zu sein; Hauptsache, er gewann, egal woher er stammte. Siege gefielen uns. Und unser Herz schlug einmal für Jens Weißflog, Kristin Otto und Katarina Witt, das andere Mal für Steffi Graf und Boris Becker, je nachdem, wer in welcher Disziplin für Deutschland ins Rennen ging. Wesfklamotten trugen sie inzwischen sowieso alle. Erst als die alte Bundesrepublik 1990 abermals Fußballweltmeister wurde - unser Land war noch mit einer eigenen Mannschaft in die Qualifikation gegangen, jetzt dachten alle nur noch an die Wiedervereinigung - und Franz Beckenbauer der staatstragende Satz rausrutschte, dank der kräftigen Unterstützung der Ostspieler würden die Deutschen in den nächsten Jahren garantiert nicht mehr verlieren, fanden wir die Sache mit dem ewigen Gewinnen zwiespältig. Angeekelt vom Mob, der, so kam es uns vor, schon Großdeutschland vor sich sah, verließen wir unseren Platz vor dem Fernseher. Diesmal, bevor die Nationalhymne angestimmt wurde. Wir wussten damals noch nicht, dass mit dem Fall der Mauer ein paar Monate zuvor langsam das Jahrzehnt zu Ende gegangen war, das uns unser ganzes Leben als die Zeit in Erinnerung bleiben würde, in der wir immer auf der Siegerseite gestanden hatten. Wir mussten dazu nur beständig die Seiten wechseln und uns ebenso lange einen Sieger suchen, bis wir ihn gefunden hatten.

Zu Hause lief es nicht anders. Da gab es Millionen vom Staat bezahlte Sportfunktionäre, wie unsere Eltern die Trainer etwas verächtlich nannten, die nichts anderes zu tun hatten, als unsere voraussichtliche Beinlänge im Erwachsenenalter herauszubekommen, Muskelkraft festzustellen, Geschwindigkeiten zu stoppen und Belastbarkeiten zu messen.   Für  jeden   von   uns rnusste bereits im Knirpsenalter eine Sportart gefunden werden, für die man der Veranlagung wegen, wie es immer hieß, taugen und in der man viele Siege nach Hause bringen würde.
So haben wir alle noch heute in der hinteren Ecke der Schreibtischschublade oder auf dem Dachboden unserer Eltern einen Stapel Urkunden und ein Knäuel dazugehöriger Medaillen liegen. Auf den meist himmelblauen Stoffbändern, die an den Rändern regelmäßig ausfransten, stand in kleinen Abständen der Name unseres Landes in drei Buchstaben. Die Medaillen waren genauso leicht wie unser Geld und wahrscheinlich keinen Pfennig mehr wert. Aber das wusste ich damals noch nicht. In unseren Kinderzimmern am Kopfende des Bettes aufgehängt, erschienen sie mir unbezahlbar und gaben uns Abend für Abend vor dem Einschlafen das gute Gefühl, aufseiten der Sieger zu stehen, ja zu einer unüberschaubaren Menge anderer Sieger dazuzugehören. Und wirklich rechnen zu meinen Bekannten bis heute ein DDR-Meister im Boxen, ein Schwimm-Junioren-Europameister in der Staffel, ein Kinder-DDR-Meister im Judo, eine mehrmalige Olympiasiegerin im Segeln, ein Teilnehmer der Friedensfahrt, ein deutscher Vorkriegsmeister im Tennis, viele Bezirksmeister ihrer Disziplinen, unzählige Crosslauf- und Dutzende Spartakiade-Sieger.

Dafür kamen sie früh, uns zu suchen, die bösen Sportfunktionäre, von denen wir damals natürlich noch nicht ahnten, dass sie böse waren. Schon in der ersten Klasse tauchte in meiner Schule ein athletischer Mann auf, der, was mich unendlich beeindruckte, die Turnschuhe mit den drei Streifen an der Seite trug und sie sowohl auf dem Schulhof als auch in der Halle anbehalten durfte; eine Sache, die uns streng verboten war und die meine Mitschüler mit Westturnschuhen allgemein vor eine schwere Entscheidung stellte. Sportstunde für Sportstunde saß der athletische Mann still auf einer der langen Turnbänke und machte sich eifrig Notizen. Nur ab und zu verschwand er geheimnisvoll mit einem von uns im Vorbereitungszimmer des Lehrers, in das man normalerweise nur kam, wenn man Klassenbuchdienst hatte oder das Magnesium für die Kletterstange verteilen durfte. Der Mann setzte sich an den Lehrertisch, bot mir den Stuhl dahinter an und begann, viele Fragen zu stellen. Er wollte wissen, was meine Eltern arbeiten, ob mir der Schulsport Spaß mache und ob ich nicht Lust habe, ihn einmal in seinem Trainingsstützpunkt zu besuchen. Manuela und Adri-ana trainierten auch dort, und mit denen sei ich doch befreundet. Alle zusammen würden wir dann in den Ferien ins Trainingslager fahren. Das mache großen Spaß und bringe eine gute Moral in die Truppe, auch wenn er nicht verhehlen wolle, worum es in der Hauptsache zu gehen habe: um Leistungen. Und die würde er in meinem Fall gern noch intensiver gefördert sehen. Schließlich schaffe der Staat ja, was alle freue, die nötigen Voraussetzungen dafür. Da seien wir doch einer Meinung, oder, Sportsfreund?

Der athletische Mann kam noch häufig, um mich zu besuchen, doch sosehr es mir schmeichelte, ihm ins Vorbereitungszimmer zu folgen, vor den Augen der Mitschüler war man so ungemein wichtig und den Turnschuhen mit den drei Streifen sehr nah, hatte ich doch von meinen Eltern streng aufgetragen bekommen, dem Mann nicht zuzustimmen und ihm vor allem nicht zu versprechen, im Trainingszentrum vorbeizuschauen. Ohne mir ein Wort zu sagen, hatten sie mich nämlich in einem Tennisverein angemeldet. Der weiße Sport, wie nun der athletische Mann verächtlich sagte, biete keine Aufstiegschancen. Zu großen Wettbewerben ins Ausland zu reisen könne ich mir auch aus dem Kopf schlagen. Das solle ich mir noch einmal genau überlegen. Aber da gab es nichts zu überlegen, die Sache war beschlossen.
(hertil 5,9 ns. Med resten ialt 15,1 ns)

Niemand hatte mir die List meiner Eltern erklärt, mich durch das Tennis dem harten Wettkampfsport zu entziehen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als meine Mitschüler bis über beide Ohren zu beneiden: wie sie, von den Sportlehrern bevorzugt, jeden Nachmittag in wichtige Leistungszentren gehen konnten, mit neuen Trainingsanzügen den Schulsport wie Blumen schmückten, ständig riesengroße Sporttaschen unter den Armen trugen und fortan nur noch «Kader» hießen. Da hätte ich auch gern dazugehört. Außerdem sah ich es als meinen persönlichen Pionierauftrag an, die Formel herauszubekommen, mit deren Hilfe die Sportfunktionäre schon jetzt ermittelten, dass all die Mädchen, die sie aussuchten, später tatsächlich viel größer und kräftiger wurden als wir, der ausgeschiedene Rest, breitere Schultern bekamen und aussahen wie Männer. Das wurmte mich. Mir fiel keine Lösung ein. Mein einziger Trost war die Akne, die diese Mädchen irgendwann heimsuchte und die man häufig bei Athletinnen im Fernsehen sah. Auf die konnte ich gern verzichten. So sahen richtige Sieger irgendwie auch nicht aus.
Mein Sport aber fristete ein klägliches Dasein, und die nächsten Jahre würde ich gezwungen sein, es mit ihm zu fristen: Tennis war ein Sommersport, und da es in der DDR keine einzige Tennishalle gab, spielten wir im Winter jeden Sonntagmorgen um acht - aber nur, wenn niemand, also wirklich niemand anderes trainieren wollte - in einer normalen Turnhalle auf Parkett. Die Netze borgten wir von den Volleyballspielern. Schlugen wir die Bälle an die Wand, fiel der Putz herunter. Mein Sport war bürgerlich verrucht und ein bisschen faschistoid dazu. Trainingslager, das war für uns ein Fremdwort, und wenn man nach Jahren harten Übens endlich seinen alten Holzschläger auf abenteuerlichen Wegen über Ungarn in einen Grafitschläger, wie man damals sagte, umtauschen konnte, wofür ganze Monatsgehälter des Vaters draufgingen, dann hatte man sich schon so tief in den ganzen Schlamassel hineinziehen lassen, dass es kaum noch einen Ausweg gab. Zumindest so lange nicht, bis ich mir während der DDR-Kindermeisterschaften in Cottbus eingestehen musste, dass die großen Siege andere erringen würden. 

Soeben war ich von Jana Kandarr in weniger als dreißig Minuten vom Platz gefegt worden - die Schiedsrichterin war auf ihrem Hochsitz beinahe eingeschlafen -, und ich musste mir, noch während wir uns übers Netz die Hände reichten und ich der Siegerin anständig gratulierte, Gedanken über meine Zeit nach dem aktiven Sport machen.


Jana Kandarr hat mich längst vergessen. Und nie hätte ich gedacht, dass ich ihr noch einmal im Leben begegnen würde, obwohl ich in den Zeitungen immer heimlich verfolgt habe, was sie gerade machte, wo sie gerade war. Deshalb wusste ich auch, dass sie, zum Glück fiel die Mauer recht bald nach dem Ende unserer DDR-Kin-dermeisterschaften, von Halle nach Karlsruhe zog, um dort in einem Alter, in dem Martina Hingis und Jennifer Capriati bereits internationale Turniere auf der ganzen Welt gespielt hatten, doch noch in ein Trainingszentrum zu gehen, wo der Putz nicht von den Wänden fiel, und Tennisprofi zu werden. Ihr erklärtes Ziel, eines Tages unter die fünfzig besten Tennisspielerinnen der Welt zu kommen, sollte sie jedoch erst kurz nach unserer zweiten Begegnung erreichen.

Wir haben uns nach zwölf Jahren nicht in Cottbus wieder gesehen, sondern in Paris, bei den French Open, und natürlich habe ich sie nicht richtig getroffen. Sie lächelte mir aus den Seiten französischer Sportzeitschriften entgegen, und sofort fiel es mir leichter, mich an der Seine heimisch zu fühlen. Eine Nacht lang war sie der Star von Paris, und ich kannte sie! Denn Jana Kandarr hatte klar und in drei Sätzen Amelie Mauresmo aus dem Rennen geworfen. Genauer gesagt, eine unbekannte deutsche Qualifikantin hatte die an Nummer eins gesetzte, französische Favoritin der Franzosen bereits in der ersten Runde der französischen French Open geschlagen und einen Traum beendet, bevor die Grande Nation überhaupt mitbekommen hatte, dass sie ihn träumen sollte.

Dabei wäre alles so schön gewesen. Nachdem das ganze Land sich gerade in eine Amelie in ihrer fabelhaften Welt auf der Kinoleinwand verliebt hatte, sollten nun alle der Amelie auf dem Centre-Court ihr Herz schenken. Aber Jana Kandarr hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, und so konnte ich mich am nächsten Morgen stolz vor dem Schreibtisch meines Chefs, der hier Patron hieß und es liebte, allein und ohne die Hilfe einer Sekretärin seine Sportzeitung zu kaufen, mit der Concierge einen Schwatz zu halten und im Bistro gegenüber einen Espresso im Stehen zu trinken, ich konnte mich also vor seinem Schreibtisch aufbauen und ihm meine Geschichte von der DDR-Kindermeisterschaft in Cottbus erzählen. Natürlich habe ich ihm dabei verschwiegen, wie viele Minuten das Match gedauert hatte und dass Jana Kandarr mir haushoch überlegen war, doch so lange, wie er mir an diesem Morgen zuhörte, so lange hat er mir nie wieder zugehört. Und als ich kurze Zeit später in seiner Sportzeitung einen kleinen, schwarzen Kasten entdeckte, der in wenigen Sätzen die Geschichte und Bedingungen des Tennissports in der DDR beschrieb, da dachte ich nach langer Zeit wieder an das Vorbereitungszimmer meines Sportlehrers, den Putz an den Wänden und war plötzlich sehr stolz, zu denen gehört zu haben, die am Samstagmorgen in aller Frühe auf die kleine, gelbe Filzkugel eingeschlagen hatten.

Jana Kandarr hat es nicht geschafft, eine Integrationsfigur zu werden. Das wurden nur Henry Maske - der ja nicht zu unserer Generation gehört und Franziska van Almsick. Während wir in den Achtzigern noch Sieger waren, kommt es mir heute so vor, als ob der Titel einer Integrationsfigur das Höchste ist, was wir im Leben überhaupt erreichen können; Auge in Auge mit dem Alltag sind wir gezwungen einzusehen, dass es nur bis hierhin und keinen Schritt weiter geht. Hätte mich jemand gefragt, dann hätte ich mir allerdings Sebastian Deisler oder Martin Schmitt als Integrationsfiguren gewünscht. Gern wäre ich mit ihnen, jeweils zu zweit natürlich, an einem schönen sonnigen Sonntagnachmittag Kaffee trinken gegangen. Dann hätten sie mir von ihrer Kindheit erzählt. Ich hätte den Mund gehalten. Später hätte ich sie nach den für sie prägenden Erfahrungen der neunziger Jahre gefragt, und wenn sie mir dann, am Ende, wir wären vermutlich schon ziemlich kaffeebetrunken beinahe von den Stühlen gerutscht, die Wimpel ihres Sportvereins überreicht hätten - wozu wir uns selbstredend erhoben hätten -, dann hätten Sebastian Deisler und Martin Schmitt vielleicht das sehr schöne Gefühl gehabt, der Osten interessiere sich tatsächlich für den Westen. Ihm seien eben nicht bloß Randgruppenreportagen von Ruhrkindern, eventuell gedopten Marathonläufern oder brennenden Asylbewerberheimen geläufig, sondern er begreife auch, dass es für eine gesamtdeutsche Zukunft nicht zuletzt der westdeutschen Herkunft bedürfe. Und ich wiederum, ich hätte endlich einmal zwei Menschen aus dem Westen kennen gelernt.
Die einzigen Stars aus unserer Generation sind Sportler. Von Stefanie Hertel einmal abgesehen. Wir haben viel von ihnen gelernt.

Dass es Michael Ballack als Karl-Marx-Städter einmal zum bestfrisierten Spieler der Bundesliga bringen würde, hätte vor ein paar Jahren noch niemand für möglich gehalten. Jan Ulle Ullrich hat uns den Weg nach Paris gezeigt und Stefan Kretz-schmar geleitete uns zu MTV. Sven Hannawald, der Flugsaurier, bewies, dass man seine Herkunft nicht verstecken muss, sondern dass es gar nicht schlimm ist, wenn sie, natürlich nur in der Stunde des Sieges, wieder zum Vorschein kommt. Unser größtes Vorbild jedoch ist Franziska van Almsick. Franzi, die diesen Namen eigentlich nicht gern hat und von ihren Freunden lieber Franz genannt werden möchte. Franz also ist wie wir - ob-schon manche glauben, sie sei nicht so geblieben -, und obendrein ist sie, wie wir alle sein möchten. Sie darf ihren neuen Freund mit zu Thomas Gottschalk nehmen und ihn allen vorstellen, sie taucht mit ihrem Auto neben New Yorker Hochhäusern in die Erde, als wäre sie im Leben nie woanders gewesen, und sie ist dank einer kleinen, blau-weißen Florenadose einmal mehr zum Gesicht des Ostens geworden. Also zu unserem Gesicht. Auch wenn einige von uns gern ihr eigenes behalten, sind wir sehr stolz auf Franz, die jünger ist als viele und doch weiter gekommen ist als alle. Sie verlieh uns die Ehre, dass jemand aus unseren Reihen ein nationaler «Goldfisch», das Wunderkind der deutschen Einheit und der erste deutsch-deutsche Star sein durfte. Das war die Geburtsstunde unserer Generation. Franz ist unser Fahnenträger.

Während ich gerade erst lernte, dass die spanische Hauptstadt nicht Barcelona, sondern Madrid heißt, kam sie im Juli '92 von den Olympischen Spielen in Barcelona zurück und hatte zwei silberne und zwei bronzene Medaillen gewonnen. Nur einen Monat später ließ sie bei den Junioren-Europameisterschaften sechs Mal die Konkurrenz hinter sich, was heißen musste, dass sie in nahezu allen Disziplinen gewann. Drei Weltrekorde dann in Japan zu Beginn des Jahres 1993. Im selben Sommer fünffache deutsche Meisterin. Unser wiedervereinigtes Land hatte sein Maskottchen, und Franz war über Nacht wichtiger als Helmut Kohl, der Solidarpakt und die gesamte Fußballnationalmannschaft zusammen.
Auf dieses Mädchen hatten alle gewartet. 1978 in Ostberlin geboren, war sie mit sieben Jahren zwar noch die jüngste Leistungssportlerin im Berliner DDR-Trainingszentrum gewesen. Schon vier Jahre später aber war das Land, das begonnen hatte, sie auszubilden, ihr vor der Nase weggeschwommen, und ehe sie sich versah, war sie die Verkörperung des Neuen.

Zum Auftakt der Olympischen Spiele in Atlanta 1996 titelte die New York Times «Franzi von Germany». Aber da war das Neue fast schon wieder vorbei. Die Stimmung im Land sank; den Umfragen zufolge fühlten sich so viele Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse wie zuletzt im August 1992. Lange Zeit vor Franz also. Das Wunderkind der deutschen Einheit war zu den Games, wie die Sportmoderatoren jetzt sagten, noch mit großen Erwartungen und als Favoritin angereist, und ich weiß nicht, ob es auch diesmal an der hohen Kriminalitätsrate in der Umgebung ihrer Unterkünfte lag oder ob sie sich einfach nicht konzentrieren konnte, leider erfuhr man nichts darüber, außer dass Franz mit zwei enttäuschenden zweiten und einem dritten Platz zurück nach Hause kam. «Ich bin eben doch kein Wunderkind», erklärte die Millionärin den wartenden Journalisten, ihr Trainer rechtfertigte das Ganze mit dem Satz, er als Psychologe genüge vollauf für Franz, und die Politikwissenschaftler interpretierten die Umfragen und erzählten den zu Hause gebliebenen Deutschen, dass hohe Erwartungen stets auch ein großes Potenzial an Enttäuschungen bereithielten. Sie dachten dabei nicht an Franz.

Überhaupt war langsam niemand mehr da, der an sie dachte, und als sie 1996 zum ersten Mal nach vier Jahren nicht mehr zur Schwimmerin des Jahres gewählt wurde, obwohl sie zwischendurch auch Sportlerin und zweimal sogar Weltsportlerin des Jahres war, kam für sie sozusagen das Nichts. Vergessen waren spektakuläre Auftritte wie 1994 bei den Weltmeisterschaften in Rom, als sie in den Vorrundenwettkämpfen auf den achten Platz spekulierte, um gerade noch so in die Endrunde zu kommen und auf einer Außenbahn starten zu können. Was natürlich danebenging: Franz wurde Neunte und hätte im zweiten Finallauf starten müssen. Ohne Chance auf Gold. Wenn da nicht ihre Kollegin Dagmar Hase gewesen wäre, die mit dem Gefühl, hinter Franz zurückstecken zu müssen, schon bestens vertraut war, auf ihren vorher erkämpften Endrundenplatz verzichtete und Franz so zurück ins Finalistenfeld holte. Und ganz so, als kennten wir Franz aber schlecht, zog sie an allen vorbei, gewann und schwamm - mach mit, mach's nach, mach's besser - ganz nebenbei: Weltrekord!

Zugegeben, Franz war oft nicht gerade die Bescheidenste unter den deutschen Sportlern. Aber wir fanden, ihre Leistungen rechtfertigten so manche Kapriole, und mal ehrlich, in Rom, was wir natürlich nur aus dem Fernsehen kannten, wäre da jemand von uns auf die Idee gekommen, für Dagmar Hase zu sein und sie zu bemitleiden?

So brachte Franz uns bei zu siegen. Die zweite Lektion, die sie uns erteilte, sollte ein wenig später das Verlieren sein. Auch das haben wir von Franz gelernt. Es klingt heute naiv, aber in unserer Kindheit war alles anders: War man damals Sportler, dann trainierte man, ohne Interviews über seine Psyche zu geben, tagein, tagaus, man fuhr still nach Olympia, durfte danach, falls man gewonnen hatte, in Anzügen, die aussahen wie Trainingsanzüge und uns immer zu pink vorkamen, mit Erich Honecker, Hermann Axen, Willi Stoph oder Günter Mittag an einer langen Tafel zu Abend essen, ein bisschen mit Heinz Florian Oertel, Adi und Angelika Unterlauf plaudern und hatte anschließend bestenfalls noch einen Auftritt in Sport Aktuell. War man Katarina Witt, durfte man auch noch in den Kessel Buntes. Doch das war's. Schluss. Danach kannte man die ganze Republik, so wie die Republik einen kannte. Jeder hatte in unserem alten Land seine Aufgabe, und war man damals Sportler, dann immer nur so lange, wie man siegte. Für die Siege wurde man entlohnt, bevor die Niederlagen auffielen, trat man ab; in den Verdacht, ein Star zu sein, geriet man nie. Heute kommt mir dieses System irgendwie ökonomischer vor.

Jana Hensel, Zonenkinder, 2002



 

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