Tekst 20: Günter Grass, Mein Jahrhundert, 1999: afsnittet 1974
Wie ist das, wenn man sich vor der Glotze doppelt erlebt? Wer geübt ist, zweigleisig zu spuren, sollte eigentlich nicht irritiert sein, sobald er seinem Ich bei besonderen Anlässen teils teils begegnet. Man ist nur mäßig überrascht. Man hat nicht nur während harter Ausbildungszeit, sondern auch durch Praxis gelernt, mit sich, diesem zweierlei Ich, hauszuhalten. (...) Aber vierundsiebzig, als man noch in der Haftanstalt Köln-Ossen-dorf als Untersuchungsgefangener einsaß und dem Wunsch nach einem Fernsehapparat in der Zelle umstandslos für die Dauer der Fußballweltmeisterschaft entsprochen wurde, haben mich die Vorgänge auf der Mattscheibe dann doch in mehrfacher Beziehung zerrissen.
Nicht als die Polen bei sintflutartigem Regen ein phantastisches Spiel hinlegten, nicht als man gegen Australien gewann und gegen Chile immerhin ein Unentschieden erreichte, es geschah, als Deutschland gegen Deutschland spielte. Für wen war man? Für wen war ich oder ich? Für welche Seite durfte man jubeln? Welches Deutschland siegte? Was, welch innerer Konflikt brach in mir aus, welche Kraftfelder haben an mir gezerrt, als Sparwasser das Tor schoß?
Für uns? Gegen uns? Da man mich jeden Vormittag zur Vernehmung nach Bad Godesberg gekarrt hat, hätte das Bundeskriminalamt wissen können, daß mir diese und ähnliche Zerreißproben nicht fremd sind. (...)
Nun aber erfuhr ich mich hin- und hergerissen, als im Hamburger Volksparkstadion am 22. Juni das Spiel DDR-BRD vor über sechzigtausend Zuschauern angepfiffen wurde. Zwar blieb die erste Halbzeit torlos, aber als der kleine, wendige Müller in der 40. Minute um ein Haar die
Bundesrepublik in Führung gebracht hätte, doch nur den Pfosten traf, wäre ich beinahe Tor, Tor, Tooor! brüllend in Ekstase geraten und hätte in meiner Zelle den Vorteil des westlichen Separatstaates bejubelt, wie ich andererseits in Jubel ausbrechen wollte, als Lauck Overath glatt ausspielte, wie er im späteren Spielverlauf sogar Netzer abgehängt hat, aber das Tor der Bundesdeutschen knapp verfehlte.
Welch einem Wechselbad sah man sich ausgesetzt. Selbst die Entscheidungen des Schiedsrichters aus Uruguay begleitete man mit parteiischem Kommentar, der mal dem einen, mal dem anderen Deutschland zugute kam. Ich erfuhr mich undiszipliniert, sozusagen gespalten. Dabei war es mir am Vormittag, als mich Kriminalhauptkommissar Federau verhörte, durchgängig gelungen, beim vorgegebenen Text zu bleiben. (...) Doch dann kamen meine leistungsstarke Super-8-Schmal-filmkamera und zwei Kassetten mit extra hartem und hochempfindlichem Filmmaterial zur Ansicht, geeignet, wie es hieß, »speziell für Agententätigkeit«. Nunja, ein Beweis war das nicht, allenfalls ein Indiz. Da es mir gelang, beim Text zu bleiben, kehrte ich beruhigt in meine Zelle zurück und freute mich auf das Spiel.
Hier wie dort: niemand hätte in mir einen Fußballfan vermuten können. Bis dahin war mir nicht einmal bekannt, daß Jürgen Sparwasser zu Hause erfolgreich für Magdeburg spielte. Nun aber erlebte ich ihn, sah, wie er sich in der 78. Minute, nach Zuspiel von Hamann, den Ball mit dem Kopf vorlegte, an Vogts, diesem zähen Burschen, vorbeistürmte, auch Höttges stehenließ und das Leder, für Maier unhaltbar, ins Netz schmetterte.
1: 0 für Deutschland. Für welches? Für meines oder für meines? Ja, ich habe wohl in meiner Zelle Tor, Tor, Tooor! gebrüllt, aber zugleich schmerzte mich der Rückstand des anderen Deutschland. (...)
Günter Grass, Mein Jahrhundert, Göttingen, 1999