Forlaget Columbus

Tekst 15: Clemens Meyer, Als wir träumten


Das Schießen war vorbei. Die grüne Lampe am Schießstand für die Elektrogewehre hatte noch einmal geleuchtet, Treffer, mein letzter Schuss, sechs von zehn, gar nicht so schlecht, und auch das Knallen der Luftgewehre drüben im Werkraum zwei, wo die FDJler schössen, hatte aufgehört. Wir legten die Elektrogewehre auf die Tische und liefen zur Tür.

»Haste gesehen, Danie, ich war richtig gut«, sagte Mark, als wir unten auf dem Hof waren, und lachte und schlug sich auf die Brust, »fast wie Old Surehand! Meine Neune packste nie!« »Scheiß auf deine Neune, scheiß auf Old Surehand«, wollte ich sagen, aber von hinten schoben sie und drängten sie, und wir stolperten weiter. Alle liefen durcheinander und formierten sich, Pioniere, FDJler und Lehrer. Da war Frau Seidel, und neben Frau Seidel stand Katja, meine Gruppenratsvorsitzende. Sie teilten uns der Größe nach ein. Ich stellte mich in die hinterste Reihe, Mark stand zwei Reihen vor mir. Ich blickte vor zu dem kleinen Podest, dort standen der Pio­nierleiter Herr Dettleff, der Direktor, Herr Singer, der eben noch die Aufsicht an den Schießständen gehabt hatte, der Freundschafts­ratsvorsitzende Miklos Maray, dessen Vater aus Ungarn kam, und jetzt stellte sich auch der Oberst zu ihnen, seine Schulterklappen sahen riesig aus. Marschmusik ertönte aus den zwei Lautsprechern vorm Podest, Frau Seidel drehte sich zu uns um und legte den Zei­gefinger auf die Lippen. Die Musik wurde leiser, dann kam ein Quietschen und Pfeifen aus den Lautsprechern, das in den Ohren wehtat, Herr Dettleff stand hinterm Mikrofonständer und fingerte an ihm rum. »Links um!« Ein paar Idioten drehten sich wie immer in die falsche Richtung. »Augen geradeaus! Im Gleichschritt marsch!« Die Musik setzte wieder ein, und wir marschierten. Wir marschierten im Quadrat um das Podest herum, und während wir marschierten, zogen drei Typen vom Freundschaftsrat ganz langsam die Fahnen an den drei Fahnenstangen nach oben. Jemand trat mir in die Hacken, und ich drehte mich um. Die Sechsten marschierten viel zu schnell und hielten den vorgeschriebenen Abstand nicht ein. Dann waren wir einmal um das Podest rummarschiert und blieben stehen.

»Rechts um! Augen geradeaus! Rührt euch!« Aus dem Lautsprecher kam wieder ein Quietschen. »Pioniere! Ich begrüße euch mit dem Gruß der Jung- und Thälmannpioniere: Für Frieden und Sozialis­mus: Seid bereit!«

»Immer bereit!«, riefen wir im Chor und legten unsere Hände an unsere Köpfe, zum Pioniergruß.

»FDJler! Ich begrüße euch mit dem Gruß der Freien Deutschen Ju­gend: Freundschaft!« Und die FDJler sagten: »Freundschaft!«, und ein paar Idioten vor mir sagten auch »Freundschaft!« und lachten dann, so war es immer. »Liebe Jung- und Thälmannpioniere, liebe FDJlerinnen und FDJler, ich begrüße euch zu unserem Pioniermanö­ver Dienst für den Frieden und freue mich auf ein erfolgreiches und produktives Pioniermanöver!«

Wir liefen durch den Stünzer Park. Der Stünzer Park war der größte Park in Leipzig-Ost, viel größer als unser Park, in dem ich mich mit Mark immer traf und mit Rico immer getroffen hatte, nur der Frie­denspark war noch ein ganzes Stück größer. Wir liefen in Dreier­gruppen, einundzwanzig Schüler und Frau Seidel. Die anderen wa­ren mit der Heimatkundelehrerin drüben am See. Neben mir lief Mark und ein Stück hinter uns Stefan, der Beißer, der mich gut lei­den konnte, aber mit Mark verstand er sich nicht richtig. Wir liefen als Vorhut, weil Mark doch so gute Augen hatte. Herr Singer hatte das nach dem Appell Frau Seidel erzählt und Marks gute Leistungen beim Schießen gelobt. »Und auch Daniel hat sich am Schießstand mit einer guten Leistung sehr gut ins Kollektiv eingebracht. Wenn er lernen will, und ich glaube er will lernen, auch aus seinen Fehlern lernen, dann ist er auf dem richtigen Weg.« Ich wusste nicht, was für Fehler er meinte, und auch der richtige Weg sagte mir nichts. »Ich hab einen«, schrie Stefan hinter uns, »ich glaub, ich hab einen!« Wir drehten uns um und liefen zu ihm. »So 'n Blödsinn, das ist nur 'n kaputter Schuhkarton, siehste!« Mark trat dagegen, und der Schuhkarton blieb in den Büschen hängen. »Musste richtig gucken, Mensch!« »Ja, ja!« Stefan lief weiter, er schob einen kleinen Zweig mit dem Fuß vor sich her. »Sei doch nicht so gemein zu ihm«, sagte ich leise. »Na klar, Danie, den bringste auch bald mit zum Piraten­schiff, stimmt's?«

»Hör doch auf, Stefan ist schon in Ordnung. Er hat doch schon ge­nug Ärger mit Maik und so.«

»Maik ist 'n Arschloch, Danie, da haste Recht.« Er drehte sich vor­sichtig um, aber er brauchte keine Angst zu haben, Maik war ja krank, seit vier Tagen schon, er lag zu Hause im Bett und sah ganz schlecht aus, das war sein Vater gewesen. Katja hatte mir das erzählt, sie hatte ihn besucht, denn sie war ja verantwortlich fürs Klassen­kollektiv.

»Danie, bleib stehen, bleibt alle stehen, da is so'n Scheißding, ich hab'ne Mine, und da ist noch eine, ich werd verrückt!« Mark hockte vor einem Gebüsch und zog vorsichtig einen Karton raus, der mit ein paar Zweigen und Blättern getarnt war. Stefan war zu dem zwei ten Karton gerannt, der ein paar Meter weiter unter einem Baum lag. Es war jedes Mal dasselbe, wo ein Karton lag, war ein anderer ganz in der Nähe, weil sie dachten, wir würden ihn übersehen, weil wir uns über den einen so freuten. Ich hockte mich neben Mark, der den Deckel der Pappkiste öffnete, und hielt den Karton fest. »Vor sichtig, Danie, sonst geht das Ding hoch!« In der Kiste war ein roter Luftballon, und die Spitzen der Nägel, die durch die Wände der Kiste gesteckt waren, berührten ihn fast. Mark griff mit beiden Hän den nach dem Ballon und zog ihn ganz langsam raus. Frau Seidel stand neben uns, ich sah ihre spitzen Schuhe. »Immer schön ruhig«, flüsterte Mark, »hab dich gleich.«  

 


Hinter uns lachten ein paar, und ich hörte, wie Frau Seidel »schschscht« machte. Mark hatte den Bal lon draußen, die Mine war entschärft, und er hielt sie mit beiden Händen über seinen Kopf und lachte. Frau Seidel sagte: »Gut gemacht.« Wir liefen zur zweiten Mine, Stefan war noch nicht fertig und fingerte im Karton rum. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und war ganz rot im Gesicht und blickte auf die Wolken am Him mel, während er den Ballon abtastete. Ein paar Mädchen saßen ne ben der Kiste und sammelten Kastanien ein. »Mach bloß keine Scheiße«, flüsterte Mark und blickte zu ihm runter. Stefan hatte jetzt den Ballon aus der Kiste geholt. Er war grün und lang, und oben kam ein kleiner Zipfel raus. »Guck dir diesen scheiß Pimmelballon an«, flüsterte Mark und lachte leise. »Sehr gut«, sagte Frau Seidel, »da werden wir viele Punkte bekommen am Ende.« Stefan schob den Ballon unter seine Jacke, und der bewegte sich dort wie ein kleiner Hund. Zwei Mädchen nahmen die leeren Kartons mit den Nägeln, die nahmen wir immer mit, denn Pioniere schützten die Umwelt. »Seid vorsichtig«, sagte Frau Seidel, »dass ihr euch nicht verletzt.«

Es knallte, irgendwo zwischen den Büschen. Wir blickten zu unseren Ballons, aber die waren in Ordnung, und Mark und Stefan hielten sie fest. Wir hatten uns wieder in Dreiergruppen formiert, ich konnte Walter nirgendwo sehen, und ich wusste sofort, dass er was mit dem Knall zu tun hatte. »Walter fehlt.« Ein Mädchen stand vor Frau Seidel, und ich lief an ihnen vorbei zu den Büschen. »Daniel, du kannst nicht einfach ...« Aber ich drehte mich nicht um, und dann sah ich schon Walters bunte Jacke zwischen den Zweigen. Er saß auf dem Boden, vor einer der Minenkisten. In den Händen hielt er was Blaues, ich hockte mich neben ihn, den Ballon hatte es er wischt, da war nichts mehr zu machen. »Na komm«, sagte ich, »is nicht so schlimm. Scheiß doch drauf.«

»Ich mach ihn wieder ganz«, sagte er leise und zog und zerrte an dem Gummi rum, »den flick ich wieder. Guck doch mal, Danie, hier ist das Loch, is nur ein kleines ... da oben, wo man die Luft rein pustet, das knoten wir wieder zusammen, ja, Danie?« Er blickte mich an, und seine Augen waren ganz groß. Er zog und zerrte an dem Gummi rum, und ich griff nach seiner Hand. »Lass den Blöd sinn«, sagte ich, nahm den kaputten Ballon und schmiss ihn in die Büsche. »Lass den Blödsinn und steh auf!« Walter nahm die leere Kiste und stand auf. »Total durchgeknallt«, sagte Mark hinter mir. Ich drehte mich um. »Halt die Fresse, Mark!«, schrie ich. Zwischen den Büschen standen jetzt die anderen. Frau Seidel kam zu uns rüber und blieb vor Walter stehen. »Du darfst dich nicht so einfach von der Gruppe entfernen, Walter.«

»Entschuldigen Sie«, er hielt ihr die Kiste entgegen, »er ist mir ka puttgegangen. Ich hatte ihn schon fast draußen, da ist er mir ge platzt ...«

»Walter«, sagte Frau Seidel, »deshalb sind wir eine Gruppe, ein Kol lektiv, Walter ...« Sie schwieg und blickte Mark und mich über ihre Brille hinweg an, wir drehten uns um und liefen rüber zu den ande ren. Wir setzten uns auf die Wiese zwischen den Büschen und blick ten auf Frau Seidel, die vor Walter stand, sodass wir ihn gar nicht mehr sehen konnten. Sie bewegte ihre Hände in der Luft wie die Musiklehrerin, wenn wir sangen. Dann kam sie wieder zu uns rüber, Walter lief hinter ihr. Er hielt die leere Kiste immer noch an seine Brust gepresst, und ich legte meine Hand auf seine Schulter, aber er lief einfach an mir vorbei.

Wir formierten uns wieder zu Dreiergruppen und liefen weiter. Vor uns sahen wir schon den Bahndamm und den Eingang des Tunnels, der unterm Bahndamm durchführte. Durch den Tunnel floss ein Bach, niemand kannte seinen Namen. Er kam aus der Kleingarten anlage Stünz, dort waren viele Gärten leer und kaputt, weil der Bach so stank. Wir liefen durch den Tunnel und hielten den Atem an. Der Tunnel war ziemlich lang, weil der Bahndamm über uns so breit war, drei Gleise, eins führte in den Lokschuppen Leipzig-Ost. »Blöde Sauerei«, flüsterte Mark neben mir. »Schschscht!« Das war Frau Sei del. Sie lief ein paar Meter hinter uns, in der Mitte unserer Gruppe, weil sie von dort aus alles überblicken konnte. »Gasangriff«, flüsterte Mark. Er sah mich an und grinste. »Gasangriff«, flüsterte jemand hinter uns. »Schschscht!« Das war kein Gas, das war Frau Seidel, die ganz genau aufpasste, dass wir die Aufgabe erfüllten. Wir waren im Feindesland und durften nicht reden. Der Bach stank, und das war der Gasangriff, jedes Mal, jedes Jahr, keiner wusste genau, wann es angefangen hatte. Ein Zug fuhr über uns, es polterte und krachte, als würde der Tunnel einstürzen, ein paar Mädchen schrien. »Schschscht!«, machte Frau Seidel. Im Bach plätscherte es, sonst war das Wasser ruhig und ganz schwarz, jemand hatte mir mal erzählt, dass hier im Tunnel Ratten wohnten, Wasserratten. Dann waren wir wieder draußen.

Vor uns lag eine kleine Wiese, ein grünes Zelt war aufgebaut, und davor Tische, auf denen jede Menge Becher standen. »Eine Gulasch kanone«, rief jemand. Und jetzt sah ich sie auch, hinterm Zelt, ein paar FDJler standen um sie herum und verteilten Teller. Wir marschierten in Dreiergruppen auf sie zu. »Nicht so schnell«, rief Frau Seidel, »wir wollen noch die letzte Übung durchführen!« Sie zeigte auf eine Gruppe Pioniere, die Medizinbälle trugen und sie dann in gelbe Ringe warfen, die auf dem Boden lagen. Die meisten trafen nicht, die Medizinbälle waren zu schwer und flogen nur ein kurzes Stück und rollten an den Ringen vorbei. Ich musste lachen, weil es so komisch aussah, wie sie sich verrenkten und verbogen, wenn sie die Bälle wegschleuderten. »Erst noch die Aufgabe«, rief Frau Seidel und winkte mit beiden Armen, »die letzte Aufgabe!« Aber es hatte keinen Zweck mehr, wir liefen jetzt alle zu der Gulaschkanone und dem Zelt und den Getränken. Mark lief vor mir, er rannte fast, sein Ballon war weg, und ich drehte mich noch mal um. Er hüpfte über die Wiese, zurück zum Bach, und verschwand zwischen den Büschen.

Clemens Meyer, Als wir träumten, 2007

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