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Tekst 19: "Es hätte nie so weit kommen dürfen"

 

 

 

Andreas Krieger sagt gegen Ewald und Höppner aus

Es gibt Geschichten, die passen nicht in einen zweistündigen Verhandlungstag, die sprengen die Grenzen der Strafprozessordnung, für die ist ein Gericht zu klein. Die Geschichte von Heidi Krieger, die als 14-Jährige an die Kinder- und Jugendsportschule des SC Dynamo Berlin delegiert wurde und 21 Jahre später als Andreas Krieger vor der 38. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin als Zeuge aussagt, ist so eine.

Angeklagte müssen aufsehen
Andreas Krieger trägt Cowboystiefel, blaue Jeans, ein schwarzes T-Shirt. Die Haare sind kurz geschnitten, die Oberlippe bedeckt ein Schnauzbart. Nichts deutet darauf hin, dass er bei den Europameisterschaften 1986 in Stuttgart die Frauen-Konkurrenz im Kugelstoßen gewann. "Ich möchte lieber stehen und den beiden Herren in die Augen sehen", sagt Krieger bevor er mit der Zeugenaussage beginnt. Die Angeklagten Manfred Ewald und Manfred Höppner müssen nun zum 1,87-Meter-Mann aufsehen.

Höppner, im Sportmedizinischen Dienst der DDR ursprünglich zentraler Dopingkonzipierer und -kontrolleur, schreibt eifrig mit, Ewald, dereinst multifunktionaler DDR-Sportchef, guckt scheu, ungläubig, unverständig. Beide sind der Beihilfe zur Körperverletzung angeklagt, auch im Fall Krieger. Krieger berichtet, wie er als 16-Jährige die blauen Pillen bekommen habe. Wie er ahnte, dass die "nicht sauber" seien, ohne zu wissen, dass es sich um männliche Hormone handelte. "Der Beipackzettel war eine Silberfolie", sagt Krieger in Anspielung darauf, dass die Trainer die tägliche Ration in Aluminium verpackt austeilten. Krieger bekam bis zu fünf Blaue pro Tag, 25 Milligramm Oral-Turinabol, eine unglaublich hohe Menge.

Die Folgen waren unübersehbar. Der Friseur schickte Heidi Krieger um die Ecke zum Kollegen für Männerschnitte. Als sie im Kaufhaus nach einem BH fragt, will die Verkäuferin wissen: "Für ihre Freundin?" Sie wird gehänselt, als "Schwuchtel, Tunte, schwule Sau" beschimpft. Einmal streckt sie einen Boxer nieder, der hinter ihr herruft.

 

112 Kilogramm reißt Heidi Krieger, 150 Kilogramm schafft sie beim Bankdrücken, mit 260 Kilogramm macht sie Halbkniebeugen. Sie ist 21: "Arnold Schwarzenegger war ein Waisenknabe gegen mich."

Schwere Schäden

Die körperlichen Schäden sind enorm, vor allem die Schmerzen in Rücken, Hüfte, Muskeln. Manchmal muss sich Heidi Krieger mit beiden Händen am Geländer die Treppen hochziehen. Schwerer zu beschreiben sind die seelischen Folgen. "Ich war nicht mehr Heidi Krieger", sagt Andreas Krieger, "ich wusste nicht mehr, wer ich war." Nach dem Ende der Sportkarriere 1991 traut sie sich nicht mehr unter Leute. "1994 hat mich ein Freund als Transsexueller erkannt", berichtet der Zeuge. Auch was 1997 folgt, beschreibt er mit äußerster Sachlichkeit: "Mir wurden die Brüste abgenommen und ich wurde unten ausgeräumt." Aus der Kugelstoß-Europameisterin war ein Mann geworden: "Eine Heidi Krieger ist mir fremd, mit einem Herrn Krieger kann ich umgehen."

Andreas Krieger macht die, die vor ihm auf der Anklagebank sitzen, nicht direkt für sein Schicksal verantwortlich. Er sagt: "Ich weiß nicht, wo ich heute wäre, wenn ich keine männlichen Hormone bekommen hätte. Aber ich weiß, dass man es hätte rückgängig machen können mit weiblichen Hormonen." Doch das wollte damals niemand, Ärzte, Trainer und Funktionäre verschlossen die Augen und machten weiter. "Die seelischen Probleme waren da, bevor ich gedopt wurde", sagt Andreas Krieger, "aber es hätte nie so weit kommen dürfen."

Matthias Kruse,Berliner Zeitung, 31.5.2000

 

 

 

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